Wolfspfade 6
Schatten auf den Boden fiel. Ich wandte den Kopf.
Im Türrahmen stand, in das glimmende Rot der untergehenden Sonne getaucht, eine Frau. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen.
„Ich denke, du solltest Anne von mir erzählen“, sagte sie.
Eine Welle der Benommenheit erfasste mich und ließ mich taumeln. Ich kannte diese Stimme.
35
„Katie?“, wisperte ich.
John fasste mich um die Taille, bevor ich auf sie zustürzen konnte. Ich trat und schlug um mich, aber er hob mich einfach vom Boden, und Katie lachte.
Es war dieses Lachen, das meinen Widerstand brach. Dieses Lachen klang überhaupt nicht nach Katie.
„Ist sie das wirklich?“ Meine Stimme zitterte.
Sie kam näher, trat aus dem schwindenden Sonnenschein ins Licht. Jemand anderes blickte mir aus den Augen meiner kleinen Schwester entgegen.
„O Gott“, keuchte ich, denn ich erkannte die Wahrheit, noch bevor die Frau zu sprechen begann, die meine Schwester war und gleichzeitig ein völlig anderes Wesen.
„Hallo, John. Lange nicht von dir gebissen worden.“
Ihre Zähne waren weißer, schärfer und wirkten zahlreicher, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie war anders gekleidet als die Katie, die ich kannte: schwarzer Lederminirock und eine spitzenbesetzte schwarze Bluse, die zu weit aufgeknöpft war, dazu acht Zentimeter hohe Riemchenpumps. Ihre Haare waren länger und wilder, ihre Augen hatten ein intensiveres Blau – durch den Wahnsinn, der in ihnen loderte.
„Lass mich runter.“ Meine Stimme war nun ruhig und sehr, sehr kalt.
„Geh nicht in ihre Nähe“, warnte John, als er mich behutsam absetzte.
Das hatte ich nicht vor. Diese Katie machte mir Angst.
„Er hat mich hierher gelockt, um mich zu töten“, verkündete sie, klang dabei jedoch eher amüsiert als besorgt.
„Ich weiß.“
„Und du hast ihn gefickt.“
Ich wand mich innerlich. Katie ließ wieder dieses entsetzliche Lachen hören.
„Keine Panik, Schwesterchen. Du wusstest es nicht.“
„Anne“, setzte John an.
„Lass sie ausreden.“
Katies Lächeln wurde zu einem Grinsen. „Ich habe im Caradaro Club auf dich gewartet, erinnerst du dich?“
Ich nickte, vor Schuldbewusstsein zu gelähmt, um zu sprechen. Ich hatte ihr versprochen, sie dort zu treffen, es dann aber nicht getan. Weil ich wie ein dreijähriges Kind wegen eines Armbands eingeschnappt gewesen war. Tja, das Armband hatte ich inzwischen zurück, aber wo war meine Schwester? Ich blickte in Katies Augen, konnte sie darin jedoch nicht finden.
„Sieh ihn dir an.“ Sie stieß einen Finger in Johns Richtung. „Wer würde nicht mit einem Kerl wie ihm heimgehen wollen? Er war damals sogar noch geiler. Kein Ziegenbärtchen, dafür längere Haare.“ Sie gab einen Laut purer Wolllust von sich.
Ich fand meine Sprache wieder. „Du hast doch nicht …“
„Mit ihm geschlafen? Als Mensch bekam ich dazu nicht die Gelegenheit. Und als Werwolf …“, sie hob die Hände und ließ sie wieder sinken, „gab es da gewisse Berührungsängste.“
Die Bewegung lenkte meine Aufmerksamkeit auf ihr Handgelenk, das schrecklich vernarbt war. „Das Armband“, sagte ich leise.
Sie musterte das schartige Gewebe. „Ich hätte es dir überlassen sollen. Als ich mich das erste Mal verwandelte, hätte es mich beinahe bei lebendigem Leib frittiert.“
Nun, das Ding war aus reinem Silber.
„Friedhofserde“, entfuhr es mir. „Das Armband war voller Friedhofserde.“
„Unser Schätzchen hier hat mich auf einem alten Friedhof verscharrt. Er wusste, dass ich wieder zum Leben erwachen und alle meine Wunden verheilen würden.“ Sie hob ihr Handgelenk in die Luft. „Mit Ausnahme von dieser hier.“
Ich schaute zu John, der seine Sonnenbrille abgenommen hatte. Ich entdeckte in seinen Augen nichts von dem Bösen, das sie beschrieb. Er war damals ein anderer gewesen, gleichzeitig fiel es mir sehr schwer, mir das bewusst zu machen. Im Moment hätte ich ihn am liebsten umgebracht.
„Warum hast du das Armband in meinem Zimmer zurückgelassen?“, fragte ich Katie.
„Um dich zu verwirren. Das hier ist ein Spiel, Schwesterchen, und du warst der Köder. Er hat dich hergelockt, um mich zu erwischen.“
„Aber John wollte mich heimschicken. King war derjenige …“ Ich schaute mich nach ihm um. Er war verschwunden. Meine Augen trafen die von John, und in ihnen las ich die Wahrheit. „Das Foto war Kings Idee.“
„Ja“, bestätigte John.
„Sullivan hat behauptet, dass es manipuliert wurde.“
„Ah, Sullivan.“ Katie leckte
Weitere Kostenlose Bücher