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Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten

Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten

Titel: Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lori Handeland
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blutunterlaufenen Stellen um meine Augen zu verstreichen. Der Schmerz ließ sofort nach.
    „Machen Sie die Augen zu“, befahl er leise und fuhr mit dem Daumen über meinen Brauenbogen.
    Was soll’s? , dachte ich. Das Zeug war sowieso schon überall. Ich schloss die Lider.
    Seine Finger waren sanft, aber bestimmt. Wo immer er mich berührte, klang der Schmerz ab. Dabei raunte er Worte in der Sprache unserer Vorfahren, die ich nicht verstand.
    Draußen hörte ich das leise, rhythmische Schlagen von Flügeln. Ich riss die Augen auf. Sein Gesicht war so nah, dass sein Atem über meine Haut strich, und ich erschauderte.
    Seine unheimlich hellen Augen schienen sich zu verdunkeln, während sich seine Pupillen weiteten. Ich konnte mich in ihnen spiegeln, als er sich näher zu mir beugte.
    Meine Brust tat weh; ich atmete nicht. Er würde mich küssen, und ich würde es geschehen lassen.
    Wieder schloss ich die Augen. Ich wartete darauf, dass er die Arme um mich legte, doch es erfolgte keine andere Berührung als das federleichte Streichen seiner Lippen über meine.
    Überwältigt von der Empfindung schnappte ich nach Luft. Ich war es gewöhnt, dass man anders mit mir umsprang. Ich war eine große Frau, die eine Waffe trug. Männer behandelten mich nie, als wäre ich aus Porzellan. Ich wollte das nicht.
    Ich öffnete leicht die Lippen, und seine Zunge zuckte dazwischen, um beide gleichzeitig zu liebkosen. Er löste seinen Mund von meinem, und ich seufzte klagend, dann hauchte er zarte Küsse auf meine Stirn, unter meine Augen, auf meine Nase. Wo immer er mich berührte, wurde meine Haut warm. Ich wollte die Augen nicht öffnen, wollte sein Gesicht nicht sehen, mich nicht erinnern, wer er war, wer ich war, wie bizarr es anmutete, dass ich mich in einem verwaisten Laden in der Center Street von einem Fremden küssen ließ.
    Als seine Küsse fordernder wurden, seine Zunge tiefer eintauchte und mit meiner spielte, wurden meine Brustwarzen hart; mein ganzer Körper erwachte zum Leben.
    Er hob den Kopf. Ich spürte, wie er mich abwartend beobachtete, sein Atem sich mit meinem vermengte. Würden wir oder würden wir nicht?
    Langsam schlug ich die Augen auf und starrte in einen leeren Flur.

5
    Für einen Sekundenbruchteil zweifelte ich an meinem Verstand, bis ich den Duft der Salbe – frisch gemähtes Gras in warmem Sonnenschein – roch und wiedererkannte. Ich berührte mein Gesicht mit einem Finger, dessen Kuppe anschließend feucht glänzte. Ian Walker war so real wie die Paste auf meiner Haut.
    Ich ging zu der offenen Tür. Das Zimmer war mit Möbeln, Kisten und Koffern vollgestellt. Offensichtlich hatte der Umzugswagen tatsächlich etwas angeliefert. Ian Walker stand mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf vor dem Fenster. Was war los mit ihm?
    Dann bemerkte ich das Foto – eine Frau in einem weißen, vom Wind gebauschten Kleid, die auf einer Prärie stand. Sie war klein, zierlich und jung, mit langen Haaren, die gleich einem tintenschwarzen Wasserfall ihr lächelndes Gesicht umwogten.
    Das Foto war in Schwarzweiß aufgenommen und anschließend mit Pastellfarben koloriert worden, was ihm ein antikes Aussehen verlieh; allerdings war mir aufgefallen, dass diese Technik heutzutage wieder oft Verwendung fand.
    Ian hob die Hand und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Der Ehering blitzte im Sonnenlicht auf. Kein Wunder, dass er sich bei der erstbesten Gelegenheit verdrückt hatte. Dieser Mistkerl .
    Seine Schultern sackten noch tiefer, als er ausatmete. Er drehte sich nicht um, sondern starrte weiter aus dem Fenster, während es auf den darunterliegenden Straßen zunehmend geschäftiger und geräuschvoller wurde.
    Wenn es ihm derart zusetzte, eine andere Frau geküsst zu haben, war er vielleicht doch gar nicht so ein Mistkerl. Dann dachte ich zurück an den Kuss, an die Gefühle, die er bei mir ausgelöst hatte und die noch immer in meinem Körper nachklangen, und plötzlich verspürte ich heißen Zorn über den Verlust von etwas, das so gut hätte sein können.
    „Wo ist deine Frau?“ Meine Stimme war so kalt wie mein Herz.
    Seine Schultern zuckten, als ob ich ihn mit einer Peitsche geschlagen hätte. „Sie ist gegangen“, flüsterte er.
    Die Kälte, die mich erfasst hatte, verdampfte in der Hitze meiner Beschämung. Ein Ehering an der rechten Hand musste Witwer bedeuten, und ich hatte ihn mit der Erinnerung an seine Frau verhöhnt.
    „Es tut mir leid … “, begann ich.
    „Du kannst nichts dafür. Ich vergaß …

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