Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
dem Freedom Trail, der Faneuil Hall, dem Aquarium und anderen Sehenswürdigkeiten zu. Kinder, die sich amüsierten und zu aufgeregt waren, langsam oder im Gänsemarsch zu gehen. Bemüht, den Regen zu überlisten, den Großstadtlärm zu übertönen, den Spaß von gestern zu übertrumpfen.
Lily hoffte, dass es ihnen gelingen würde. Sie hoffte noch mehr, dass Rose irgendwann in der Lage sein würde, es ihnen gleichzutun. Sie wandte sich von dem großen Panoramafenster ab, das einen Ausblick auf den Spielplatz am Ufer des Charles River gewährte. Sie nahm neben Liam auf einem der orangefarbenen Stühle im Warteraum der Klinik Platz, während Rose für die Operation vorbereitet wurde.
Sie sah ihn an. Sie kam sich vor wie in einem Traum, in dem alles normal und absonderlich zugleich war. Liam Neill und sie saßen beisammen, als wären sie seit langem ein Paar. Sie warteten auf Roses Herzoperation. Vor zwei Abenden hatte er sie geküsst.
Das war der Teil, der wie ein Traum anmutete. Sie konnte nicht glauben, dass sie sich insgeheim so unbeschreiblich glücklich und beseelt fühlte, während ihre Tochter um ihr Leben kämpfen musste. Liam berührte ihren Handrücken, und sie schmolz innerlich dahin. Er fragte, ob sie eine Tasse Tee wolle, und sie war so trunken vor Glück, dass sie ihre Augen nicht von ihm abwenden konnte.
Bisher hatte sich keine Gelegenheit geboten, über das zu reden, was zwischen ihnen geschehen war – oder es auch nur zu wiederholen. Seit der Ankunft in Boston war jede Minute damit ausgefüllt, bei Rose zu sein und mit den Ärzten zu sprechen. Sie wusste, dass es so am besten war, sie konnte keinerlei Ablenkung gebrauchen. Rose war eine Aufgabe, die sie rund um die Uhr beanspruchte, und mehr noch: Sie war ihr Leben. Sie wollte nichts aufs Spiel setzen, indem sie ihre Prioritäten durcheinanderbrachte.
Zumindest redete sie sich das ein, wenn sie darüber nachdachte, dass Liam sie einmal und nie wieder geküsst hatte.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er, als er ihr nun im Warteraum Gesellschaft leistete.
»Alles bestens. Mit dir auch?«
»Ja.« Die Art, wie er ja sagte und sie mit blitzenden Augen ansah, verwirrte sie und ließ sie erröten.
»Gut.«
»Es hat sich etwas verändert. Und du musst keine Angst davor haben, Lily.«
»Sprichst du von Rose? Von den Untersuchungen?«
Rose hatte eine weitere Echokardiographie über sich ergehen lassen müssen; sie war so erschöpft gewesen von der kumulativen Wirkung des Sauerstoffmangels, dass sie schlief, während die MTA kaltes Gel auf ihre Brust rieb. Sie schien nichts von dem Lärm des Dopplers mitzubekommen. Die Untersuchung hatte zum Glück keine Überraschungen enthüllt – Rose war durch den Aufenthalt in der Melbourner Klinik stabilisiert und für die Operation gerüstet.
»Nein. Ich spreche nicht von Rose.« Liam lächelte.
»Sie ist im Augenblick das Einzige, woran ich denken kann, Liam.«
»Ich weiß. Wir haben es fast geschafft.«
»Wir waren schon so oft hier.« Lily blickte in Liams von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht und spürte ein Kribbeln im Bauch. Sie hatten beide ›wir‹ gesagt, eine zutreffende Bezeichnung. Liam war immer zur Stelle gewesen, wenn Rose und sie Hilfe brauchten. Warum war ihr das vorher nie bewusst geworden?
»Dieses Mal ist es anders«, sagte Liam.
»Woher willst du das wissen?«
Liam ergriff ihre Hand. Sie erbebte und wünschte sich, er würde sie in den Arm nehmen – ihre Gefühle glichen einem Wirbelsturm. Sie sehnte sich danach, dass er sie hielt, damit sie nicht in tausend Scherben zersprang. Ihre Haut prickelte, und sie spürte ein nie gekanntes Verlangen, das sie verwirrte, verstörte und zu einem völlig unpassenden Zeitpunkt befiel. Dabei hatte er nur ihre Hand gehalten.
»Dieses Mal ist es anders, weil diese Operation einem Sonntagsspaziergang gleicht«, beteuerte er. »Sie ersetzen nur den alten Flicken. Das Loch im Herzen ist nicht gerissen, größer geworden oder zum Zerreißen gespannt. Das einzige Problem ist der Patch, und dieser Eingriff wird der letzte sein.«
»Es wird ihr danach nicht schlechtergehen.«
»Nein. Keinesfalls. Ihre Symptome rühren ausnahmslos von dem brüchigen Flicken her und haben nichts mit der Pulmonalklappenverengung zu tun.«
»Ich halte das nicht aus«, flüsterte sie.
»Doch, du schaffst das.« Er schüttelte sachte ihre Hand. »Denk in Ruhe darüber nach, Lily. Du weißt, dass alles gut werden wird.«
Sie sah Liam an; er starrte auf die Tür,
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