Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
viele offene Fragen.«
»Und nicht alle sind schlimm.«
»Ich weiß.« Lily lächelte. Doch ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass es Punkt zehn war – der Eingriff begann. Operationen am offenen Herzen dauerten nicht lange. In der Regel höchstens sechzig Minuten. Doch in dieser einen Stunde konnte viel geschehen. Es ging um Leben und Tod, und das Urteil wurde vor den Augen der Angehörigen gefällt … O Gott, betete Lily und schloss die Augen. Steh ihr bei in dieser Stunde …
Liam öffnete seinen Laptop in der Hoffnung, Lily fände es erfreulich und beruhigend, den grünen Lichtpunkt zu verfolgen, der MM122 repräsentierte und sich dem Boston Harbor stetig näherte. Doch Lily schien unfähig, ihr Augenmerk auf etwas anderes zu konzentrieren als die Uhr und die Tür, aus der die Ärzte nach der Operation treten würden.
Zehn Uhr fünfzehn. Liam versuchte, seine eigene Nervosität zu verbergen. Er hatte bei sämtlichen Herzoperationen an Lilys Seite ausgeharrt. Roses Aortenklappenstenose und der Ventrikelseptumdefekt erforderten eine Öffnung der Herzwand.
Um die ungehinderte Durchblutung anderer lebenswichtiger Organe zu gewährleisten, musste Rose an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden. Liam hatte sich bei einem Freund von der McGill-Universität, der als Herzchirurg in Vancouver tätig war, über den Ablauf des Eingriffs kundig gemacht. Rose hatte eine Vollnarkose erhalten und würde nichts merken. Dr. Garibaldi musste das Brustbein öffnen, um in den Brustraum zu gelangen.
Katheter saugten das venöse Blut aus der rechten Herzseite in die Herz-Lungen-Maschine, die es in pulsierenden Bewegungen durch spezielle sauerstoffhaltige Filter presste; das mit Sauerstoff angereicherte Blut wurde dann mit Hilfe eines Katheters in der Aorta wieder in den Körper zurücktransportiert.
Das Herz selbst war nun blutleer – und es war Eile geboten; die Ärzte mussten zügig arbeiten. Im Operationssaal war es sehr kalt, damit Herz und Gehirn weniger Sauerstoff verbrauchten. Liam versuchte sich die Vorgänge auszumalen, ertappte sich aber dabei, dass er genau wie Lily ständig auf die Uhr blickte. Fünf Minuten nach halb elf.
»Die letzte Operation hat vierzig Minuten gedauert«, sagte Lily. »Der Arzt muss jeden Moment auftauchen.«
»Ja. Gleich.«
»Sie entfernen ja nur die Blockade im Ausflusstrakt und ersetzen den Flicken.«
»Richtig. Dr. Garibaldi hat diesen Eingriff schon unzählige Male durchgeführt.«
»Aber nicht bei Rose. Sie wurde immer von Dr. Kennedy operiert. Bis er die Stellung in Baltimore angetreten hat, im Johns Hopkins. Wir hätten auch in die Johns-Hopkins-Klinik fahren können.«
»Boston ist gut, Lily. Das beste Herzzentrum weit und breit. Und Dr. Garibaldi ist der beste Herzchirurg, den es gibt.«
»Trotzdem …«
»Ich weiß. Aber Boston ist näher an Zuhause. Und du magst diese Klinik, und Rose fühlt sich hier wohl.«
»Stimmt.« Lily sah ihn eindringlich an, als sei ihr dieser Gedanke noch nie gekommen. »Du hast recht. Deshalb haben wir uns für Boston entschieden – weil die Klinik gut ist und Rose sich hier wohl fühlt.«
Zwanzig vor elf.
»Sie ist schon seit vierzig Minuten im OP«, murmelte Lily. »So lange war sie noch nie an der Herz-Lungen-Maschine, soweit ich weiß.«
»Das ist nicht besonders lange, Lily. Die Ärzte müssen jeden Moment herauskommen.«
»Es ist nur … Sie müssen sichergehen, dass sich Blut und Sauerstoff richtig vermischen. Ich habe bis heute nicht begriffen, wie das einer Maschine gelingt. Zum Glück ist es nicht das erste Mal, dass sie zum Einsatz kommt – sie wird dauernd benutzt. Bei Rose hat es hinterher nie Nachwirkungen gegeben. Abgesehen von der bakteriellen Infektion …«
»Das passiert dieses Mal nicht.« Liam griff nach Lilys Hand. Aber sie entzog sie ihm. Als fühlte sie sich in diese Zeit zurückversetzt – Rose hatte die Operation überstanden, sich im Anschluss jedoch eine lebensbedrohliche Staphylokokkeninfektion zugezogen –, sprang Lily von ihrem Stuhl auf und begann, rastlos hin und her zu marschieren. Sie ging zum Fenster und lehnte ihre Stirn an die Glasscheibe.
Liam, der hilflos mit ansehen musste, wie sie sich quälte, zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf die Wissenschaft zu konzentrieren. Er stellte den Computerbildschirm heller – anders als neulich Abend, als er mit Lily in seinem Truck unweit des Leuchtturms gesessen hatte, in einer pechschwarzen Nacht; sein Computer hatte jeden
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