Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
durch welche die Ärzte kommen würden, um ihnen mitzuteilen, dass alles für die Operation bereit war. In Gedanken listete sie die medizinischen Probleme und Aktivitäten auf, die für heute anberaumt waren. Obwohl die Fallotsche Tetralogie vier Defekte einschloss, besaßen heute nur zwei von ihnen allerhöchste Dringlichkeit. Die Pulmonalklappenstenose – der Ausflusstrakt war an der Stelle, wo bei Rose die rechte Herzkammer und Lungenarterie zusammentrafen, verengt und blockiert und der große Herzkammerscheidewand-Defekt – der Flicken war brüchig geworden, so dass sich das Blut in den beiden Herzkammern ungehindert vermischte.
Die schwere Stenose, an der Rose litt, bedeutete, dass bei jedem Herzschlag weniger Blut die Lunge erreichte, was eine Blaufärbung der Haut nach sich zog. Bei der heutigen Operation sollte der verdickte Muskel unterhalb der Pulmonalklappe entfernt und der alte verschlissene Flicken durch einen neuen aus Goretex ersetzt werden. Das Ganze klang wie ein Kinderspiel – trotzdem konnte Lily den Stress kaum mehr ertragen.
Endlich kamen die Ärzte, mit Rose auf der Liege. Bereit für den Eingriff – medikamentös ruhiggestellt, die Haare unter einer Papierhaube verborgen, an Monitore und Tropf angeschlossen – es gelang ihr, den Kopf leicht zu heben, auf der Suche nach Lily. Doch die Person, nach der sie verlangte, war Liam.
»Dr. Neill.«
»Ich bin hier, Rose.«
»Denk daran, was ich gesagt habe.«
»Keine Bange. Ich werde es nicht vergessen.«
Lily bemerkte den Blick, den die beiden tauschten, und spürte abermals das sonderbare Kribbeln im Bauch – sie wusste nicht, was zwischen ihnen vorging, aber es musste etwas Wichtiges sein.
»Hast du sie wiedergefunden? Nanny?«
»Ja.« Liam ging in die Hocke, sein Gesicht auf gleicher Höhe mit Rose. »Habe ich. Es ist unglaublich, aber weißt du, wo sie steckt?«
Rose schüttelte den Kopf; sie verdrehte die Augen, versuchte wach zu bleiben. Lily berührte Liams Rücken – zum einen, um ihn zu unterstützen, und zum anderen, weil sie einbezogen werden wollte.
»Erzähl es ihr, Lily …«
Lily konnte es selbst kaum glauben. »Schatz, Nanny schwimmt von Nova Scotia aus in Richtung Süden. Während alle anderen Wale nach Norden ziehen, glauben wir, dass sie unterwegs nach Boston ist, um dich zu suchen …«
»Ihr geht es doch gut, oder?«, fragte Rose ängstlich.
Lily nickte. »Ja. Nanny geht es gut. Und dir bald auch, mein Schatz.«
»Ganz sicher«, bestätigte Liam.
»Wir müssen los«, sagte Dr. Garibaldi. »Wenn Sie Rose wiedersehen, wird sie so gut wie neu sein. Sie hat mir alles über diese Nanny erzählt – und sie wird noch vor Ende der Woche wieder in Nova Scotia sein, und spätestens im August kann sie mit so vielen Walen schwimmen, wie sie möchte. Wir werden ihr den besten und stärksten Flicken der Welt einsetzen, und das wird für lange Zeit die letzte Operation von Miss Rose Malone sein. So, jetzt komm – los geht’s.«
Lily und Liam beugten sich herab, um Rose zu küssen, und das war’s – sie rollten sie weg. Lilys Herz drohte zu versagen, als sie zusehen musste, wie ihr Kind im Fahrstuhl verschwand. Sie spürte, wie Liams Arm sie umfing, und ließ sich von ihm zu den Stühlen im Warteraum geleiten. Es gab dort ein Fernsehgerät, das eingeschaltet war – wie immer und überall –, einen Stapel Illustrierte und eine Morgenzeitung. Doch Lily barg den Kopf in den Händen und bemühte sich, ihre Fassung wiederzugewinnen.
»Du hast den Doktor gehört«, sagte Liam. »Er klang sehr zuversichtlich; er ist der Meinung, dass Rose am Ende der Woche wieder zu Hause sein wird, Lily – in sechs Tagen.«
»Ich weiß.«
»Sechs Tage, Lily. Dann sind wir wieder auf Cape Hawk. Und Rose kann den Sommer genießen.«
Lily ließ zu, dass er sie in die Arme nahm. Es gab Zeiten, in denen sie weder reden noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Vor neun Jahren hatte es in ihrem Leben Aspekte gegeben, die so traumatisch waren, dass sie einen ausgeprägten Kampf- und Fluchtreflex entwickelt hatte. Dann strömte das Adrenalin durch ihren Körper, machte sie völlig taub. In ebendiesem Zustand befand sie sich jetzt.
Das Leben mit Roses Vater war die Hölle auf Erden gewesen. Er war außer sich vor Wut über die Schwangerschaft gewesen, und sein Verhalten hatte sich zusehends verschlimmert. Unfähig, den Grund zu begreifen, hatte sie wiederholt beteuert, dass sie ihn nach der Geburt des Kindes noch genauso –
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