Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
verlegt.
»Wie steht es mit den Schmerzen, Rose?«, fragte die Schwester.
»Nicht so schlimm. Mom, hast du Jessica gesagt, dass ich in einer Woche nach Hause komme?«
»Ja, Schatz.«
»Dr. Neill, was ist?« Sie sah ihn an, weil seine Miene so sonderbar war – als sei er zwischen dem Bedürfnis hin- und hergerissen, sich zurückzuhalten oder vorzuspringen, um sie notfalls aufzufangen. Die Schwester warf ihm ein schulmeisterliches Lächeln zu, als hätte er noch viel zu lernen.
»Bei Kindern verläuft der Genesungsprozess nach einer Herzoperation viel schneller als bei Erwachsenen«, belehrte sie ihn. »Die Herzwand verursacht seltener Schmerzen. Sobald Rose auf den Beinen ist und gehen kann, verlegen wir sie nach unten, auf die Kinderstation.«
»Prima.« Dr. Neill streckte die Arme aus, genau wie damals, als sie noch klein war und laufen lernte. Der Anblick brachte sie zum Lachen, worauf ihr der Brustkorb weh tat. »Rose? Was ist?«, fragte er besorgt.
»Das schaffe ich. Schau mal.«
»Ich bin bereit, wenn du so weit bist, mein Schatz«, sagte ihre Mutter.
Die Erwachsenen standen dicht neben ihr, als Rose langsam zur Bettkante rutschte. Sie streckte die Zehen in Richtung Boden, schlüpfte in ihre flauschigen Hausschuhe. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich fest an. Dass er lange geschwankt hatte, beinahe wie an Deck der Tecumseh II bei ihrer Geburtstagsparty, hatte sie ihrer Mutter verschwiegen. Es hatte sich wie ein Boot in Schräglage angefühlt, vorne und hinten, zu beiden Seiten, rundherum. Sie war ganz benommen gewesen und hatte gewusst, dass es am Sauerstoffmangel lag.
Doch das hatte sich nun geändert. Sie fühlte sich schon jetzt, einen halben Tag nach der Operation, zehn Mal, hundert Mal, tausend Mal besser als je zuvor. Sie holte tief Luft – und spürte, wie sich die Lungenflügel weiteten und ihre Kräfte zurückkehrten.
»Ich fühle mich gut «, sagte sie.
Alle lächelten, und ihre Mutter streckte die Hand aus.
»Gehen wir ein paar Schritte?«
Rose nickte, machte aber keine Anstalten, ihre Füße zu bewegen. Sie wartete und hob den Blick.
»Rose?«, fragte Dr. Neill.
Sie streckte stumm die Hand aus. Er ergriff sie, verschränkte seine Finger mit ihren, und dann war Rose bereit. Gemeinsam machten sie die ersten Schritte, Dr. Neill, ihre Mutter und sie. Durch die ganze Intensivstation, um das Schwesternzimmer herum. Ihr wurde bewusst, dass Dr. Neill jedes Mal da gewesen war, wenn sie auf der Intensivstation gelegen hatte.
Der Zutritt zur Intensivstation war nur Familienangehörigen erlaubt. Rose lächelte mit gesenktem Kopf, damit niemand sah, wie glücklich sie darüber war. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, doch in den letzten neun Jahren hatte sie gelernt, auf ihr Herz achtzugeben, um zu verhindern, dass es brach. Doch Dr. Neill drückte ihre Hand, und sie beschloss, sich einen Hoffnungsschimmer zu gestatten.
Lily und Liam machten sich nach Verlassen der Klinik zu Fuß auf den Weg zum Boston Harbor. Sie nahmen eine Abkürzung durch Faneuil Hall und landeten am Long Wharf. Spaziergänger schlenderten, die laue Sommernacht genießend, gemächlich an ihnen vorüber, doch Lily und Liam hatten es eilig: Sie brauchten das Meer. Es war ihr Lebenselixier; sie mussten es sehen und die salzige Luft schmecken, die sie an Zuhause erinnerte.
Liam hatte den Feldstecher dabei, so dass sie das blaue Wasser absuchen und nach Nanny Ausschau halten konnten. Doch sie kam nie nah genug an die Küste heran und schien sich in sicherer Entfernung jenseits der Hafeninseln aufzuhalten.
Als sie an diesem Abend ihr Quantum Meeresbrise genossen hatten, kehrten sie ins Hotel zurück. Lily betrachtete das Kopfsteinpflaster, spürte, wie die Anspannung in ihr wuchs. Es gab so viel, was sie ihm sagen wollte, aber sie fühlte sich befangen und um Worte verlegen, als hätte es ihr die Sprache verschlagen. Er hatte heute Abend keine Anstalten gemacht, ihre Hand zu halten – kein einziges Mal während des ganzen Spaziergangs.
»Das Leben ist schon seltsam«, sagte er plötzlich.
»In welcher Hinsicht?«
»Da glaubt man zu wissen, was für einen selbst am besten und richtig ist, und plötzlich passiert etwas, das sämtliche Pläne über den Haufen wirft.«
»Was meinst du damit?« Dachte er an den Sommer? Er hatte auf vieles verzichtet, um bei Rose und ihr zu sein; vielleicht bereute er es, dass er ihnen so viel Zeit geopfert hatte, statt an seinem Forschungsprojekt zu arbeiten.
»Ich
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