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Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Titel: Wolken über dem Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Leuchtpunkt deutlich angezeigt, und er hatte den Arm um Lily gelegt, ihre seidenweiche Haut gespürt. Davon konnte heute keine Rede sein.
    Er betrachtete den Bildschirm. Da war sie – Nanny, MM122 –, ein blinkendes Signal vor der Küste von Gloucester. Sie hatte ihre rätselhafte Reise in eineinhalb Tagen bewältigt – von Melbourne schräg durch den Atlantik bis zum Golf von Maine, vorbei an Matinicus und Monhegan, Christmas Cove, Boothbay Harbor, Yarmouth, Portland, im weiten Bogen um die Isle of Shoals herum und danach an der Küste von Massachusetts entlang.
    Und nun war sie hier, direkt vor der Nordküste Bostons und bewegte sich in Richtung Süden. Er hätte Lily gerne gezeigt, was er sah, aber ihre angespannte Haltung verriet, dass sie es jetzt nicht ertrug, etwas über Nanny zu hören. Liam spürte, wie sich sein Magen verkrampfte.
    MM122 war weit entfernt von ihrem gewohnten Lebensraum und den geographischen Gebieten, in denen man im Juli Belugawale antraf. Ob zwischen Nanny und Rose irgendeine mysteriöse Verbindung bestand? Da beide auf Cape Hawk beheimatet waren, konnte der Wal Rose jederzeit begrüßen; aber was wäre, wenn er an diese Küste gekommen wäre, nach Boston, um ihr eine Botschaft zu übermitteln – Abschied von ihr zu nehmen?
    Liam weigerte sich, darüber nachzudenken. Er blickte Lily an, die auf der anderen Seite des Raumes stand, und erhob sich. Fünf vor elf. Rose lag seit rund einer Stunde unter dem Skalpell. Er überlegte fieberhaft, wie er Lily beschwichtigen könnte: Vielleicht hatten die Ärzte später angefangen, vielleicht hatten die Vorbereitungen im Operationssaal länger gedauert, vielleicht …
    Das war nicht die richtige Zeit für Spekulationen. Als Ozeanograph wusste er, dass in solchen Situationen nur auf hieb- und stichfeste Fakten Verlass war. Er durchmaß den weitläufigen Raum – eine Entfernung, die ihm unendlich weit erschien – und gesellte sich zu Lily. Er wurde an die erste Begegnung mit seiner Mutter nach Connors Tod und der Amputation seines verbliebenen Armstumpfs erinnert. Damals hatte seine Mutter auch aus dem Fenster gestarrt. Er hatte sie angesprochen, aber sie hatte nicht reagiert.
    »Lily?«
    Als sie sich abrupt umdrehte, war er so erleichtert, dass ihm Tränen in die Augen traten.
    »Was ist?«
    »Ich wollte dir etwas sagen.« Er blinzelte, drängte die Tränen zurück. Er hätte gerne eine wissenschaftlich fundierte, unwiderlegbare und kluge Formulierung gewählt. Doch ihm fiel nichts ein. Er konnte nur noch an Rose denken.
    »Du hast vorhin von der richtigen Mischung gesprochen. Blut und Sauerstoff.«
    »Ja …«
    »Ich dachte gerade an mein Graduiertenstudium. Wir haben damals in einem Meeresbiologie-Kurs einiges über dieses Thema gelernt. Wie du weißt, sind Wale Säugetiere, und unser Professor hielt eine Vorlesung über das Kreislaufsystem der Wale.«
    Lily nickte, hörte aufmerksam zu. Sie hatte offenbar die Schweißperlen auf seiner Stirn entdeckt – denn sie streckte die Hand aus und strich ihm das feuchte Haar aus dem Gesicht. Ihr Lächeln war sanft, als wollte sie ihn dazu ermutigen, fortzufahren.
    »Als die Medizin noch in den Kinderschuhen steckte, etwa im sechsten Jahrhundert vor Christus, hatten Ärzte auf den Ionischen Inseln in Griechenland die Theorie aufgestellt, dass menschliches Blut mit einer ›vitalen Essenz‹ angereichert wurde, wenn sich Luft und Blut in der Lunge vermischten. Doch es dauerte noch etliche Jahrhunderte, bis man erkannte, dass dieses ›Lebenselixier‹ …«
    »Sauerstoff war«, fiel Lily ihm ins Wort. Liam lächelte; vermutlich wusste sie mehr über diesen Prozess als die meisten Wissenschaftler.
    »Richtig. Ich erinnere mich noch heute an William Harveys berühmte Abhandlung – ich glaube, aus dem Jahr 1628 – über Blutstrom und Kreislauf. Natürlich ging es in meinem Kurs um Wale, nicht um Menschen.«
    »Herzen sind Herzen«, flüsterte Lily und sah, wie der Zeiger auf elf Uhr vorrückte.
    Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie begann zu zittern, so sehr, dass er befürchtete, sie würde zusammenbrechen. Er legte den Arm um sie, drückte sie an sich. Sie bebte am ganzen Körper, umklammerte seinen Arm, barg ihr Gesicht an seiner Brust.
    »Wo bleiben die Ärzte nur?«
    »Sie kommen gerade.«
    Noch bevor sie den Blick heben konnten, hörten sie Dr. Garibaldis Stimme. »Lily? Liam?«
    »Wie geht es Rose?« Lily stürzte auf den Arzt zu. Liam blickte sich suchend um – als hätte er

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