Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Panorama, das sie von Cape Hawk kannten und liebten. Aber es war gleichwohl Wasser, und Lily spürte, wie auch andere Dinge in Fluss gerieten.
»Du hast vorhin den Hai erwähnt; darüber hätte ich gerne mehr erfahren.«
»Wirklich? Es war nichts – ich habe nur ein bisschen sinniert.«
»Gut, dann sinniere.« Sie lehnte sich im Stuhl zurück.
»Zeitweilig kommt es mir vor, als wäre mein Leben mit dem Hai beendet gewesen. Und manchmal scheint es, als hätte es gerade erst begonnen.«
»Wie das?«
»Ich habe dir erzählt, dass Connor und ich uns unvorstellbar nahestanden. Wir waren unzertrennlich. Obwohl er drei Jahre jünger war, gab es niemanden, mit dem ich lieber beisammen gewesen wäre. Er war immer für einen Spaß zu haben. Er schwamm oft zu den Walen hinaus und kletterte auf ihren Rücken, wenn sie schliefen. Wir haben ihn fortwährend zu Mutproben herausgefordert.«
»An jenem Tag auch?«
»Ja. Er versuchte, so nahe wie möglich an einen Beluga heranzukommen. Der Wal fraß gerade, Krill und Heringe. Wir bemerkten den Hai erst, als er Connor schnappte und in die Tiefe zog.«
»Vor deinen Augen?«
Liam nickte. »Connor streckte beide Arme nach mir aus. Ich schwamm, so schnell es ging, zu ihm – zerrte an ihm, versuchte ihn freizubekommen. Und dann … war er plötzlich weg. Ich schwamm im Blut meines Bruders, tauchte und tauchte nach ihm, immer wieder. Und dann ging der Hai auf mich los.«
Lily hörte schweigend zu.
»Er packte meinen Arm. Es tat nicht weh – ich spürte weder seine Zähne noch sonst etwas. Später erfuhr ich, dass sie so scharf sind wie Rasiermesser, Haut und Knochen werden bei einem Biss glatt durchtrennt. Es fühlte sich eher wie bei einem mörderischen Tauziehen an. Ich konnte nur an Connor denken – ich versuchte, den Hai mit meinem heilen Arm abzuwehren, auf ihn einzudreschen, ihm die Augen herauszureißen. Ich bohrte meine Finger in seine Augenhöhle – was ihn endlich dazu brachte, von mir abzulassen.«
Lily saß völlig verkrampft da. Sie wusste, wie es war, wenn man um sein Leben kämpfen musste. Liams Beschreibung, wie die Zähne in sein Fleisch sanken – so scharf und glatt, dass man kaum merkte, wie man bei lebendigem Leib gefressen wurde – ging ihr durch und durch. Sie dachte an den letzten Tag ihrer Ehe – sie war hochschwanger mit Rose gewesen, als ihr Mann sie so angerempelt hatte, dass sie zu Boden fiel, und dabei hatte er so getan, als habe es sich um ein Versehen gehandelt.
»Du bist ihm entkommen«, flüsterte sie.
»Ja. Dass ich noch schwimmen konnte, war nur dem Adrenalin zu verdanken – ich tauchte immer wieder nach Connor, trotz des abgerissenen Arms. Ich glaube, ich habe es nicht einmal wahrgenommen. Jude schrie um Hilfe – er war an Land geschwommen, stand auf einem Felsen. Es gelang ihm, jemanden auf sich aufmerksam zu machen, und ein Boot preschte herbei. Sie mussten mich mit Gewalt aus dem Wasser holen – alle waren überrascht, dass ich den Angriff überlebt hatte. Der Hai hatte eine Arterie durchtrennt – ich verlor viel Blut, direkt an der Stelle, wo Connor untergegangen war.«
»Oh, Liam.« Sie sprang auf, unfähig, die Bilder zu ertragen, die seine Worte in ihr hervorriefen. Liam stand neben ihr; zitternd lehnte sie sich an den Tisch. Liam streckte die Hand aus, um sie zu stützen – er wirkte überraschend ruhig. Hinter ihm, in einer Ecke des Raumes, lehnte sein künstlicher Arm an der Wand.
»Wie schafft man es, sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, wenn man so etwas durchgemacht hat?«
»Und wie hast du es geschafft, Lily Malone? Du bist ebenfalls einem Hai begegnet.«
»Manchmal staune ich noch heute darüber.«
»Schicksalsschläge, die sich im Nachhinein als glückliche Fügung erweisen. So ist das Leben. Das Gute an deinem Schicksalsschlag ist, dass du Rose hast.«
»Stimmt. Und was ist mit dir?«
»Ich habe dich. «
»Das ist …«
»Irgendeine höhere Macht hat uns zusammengeführt. Das nenne ich eine glückliche Fügung.«
Lily stellte sich auf die Zehenspitzen und legte ihre Arme um seinen Hals. Sie liebkoste seinen Hinterkopf, blickte ihm tief in die Augen. Ihre Gefühle befanden sich in Aufruhr, ließen sich kaum noch bezähmen. Sie wollte ihn trösten, aber das Bedürfnis, ihn zu küssen, war übermächtig.
Liam nahm ihr die Entscheidung ab. Er zog sie an sich und küsste sie. Der Kuss war lang und innig, als hätten sich ihrer beider Empfindungen seit Ewigkeiten angestaut, genau wie
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