Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
angenommen, dass Dr. Garibaldi Rose auf der Liege in den Warteraum mitbringen würde. Dann musterte er das bleiche Gesicht des Arztes, die eingesunkenen Augen und wusste, was kommen würde, noch bevor er auch nur den Mund aufmachte.
»Es geht ihr gut«, sagte er. »Sie hat die Operation ohne die geringsten Probleme überstanden. Wir haben den Ausflusstrakt durchgängig gemacht und den Patch ausgetauscht. Gegen einen Goretex-Flicken – der für den Rest ihres Lebens halten sollte. Sie befindet sich noch im Aufwachraum, ist aber schon wieder ansprechbar und wird gleich hochgebracht, auf die Intensivstation.«
»Danke«, sagte Liam. »Danke, Doktor.«
Lily schüttelte Dr. Garibaldi die Hand und berührte mit der anderen Hand ihr eigenes Herz, während sie sich bedankte.
»Du hast ihm noch vor mir gedankt«, sagte sie, als der Doktor gegangen war.
»Oh, tut mir leid – ich wollte nur …« Er war mit einem Mal verlegen.
»Nein, schon gut.« Sie errötete. »Es ist nur … so würde sich ein Vater verhalten.«
Liam stand kerzengerade da und brachte kein Wort über die Lippen. Wenn Lily nur wüsste, was in seinem Inneren vorging, was Rose ihm bedeutete, seit er ihr auf die Welt geholfen hatte.
»Ich dachte gerade an das, was du sagtest, bevor der Doktor auftauchte. Über die Griechen und die vitale Essenz, das Lebenselixier.«
»Sauerstoff«, erwiderte er. Wie sie bereits selbst gesagt hatte.
»Wahrscheinlich ist da auch noch etwas anderes im Spiel.« Den Blick auf die Aufzugtür gerichtet, hörte sie den Fahrstuhl kommen. Der Doktor hatte gesagt, Rose würde gleich oben sein; endlich war es so weit. Sie sah Liam an.
»Und das wäre?«, fragte er.
»Nun …« Sie verstummte.
Liam hätte ihr gerne gesagt, was er vermutete, doch er konnte das Wort nicht laut aussprechen: Liebe. Das größte Lebenselixier, das es gab.
In ebendiesem Augenblick ging die Fahrstuhltür auf, und ein Pfleger rollte Rose heraus – sie lag auf der Liege, angeschlossen an Monitore, aber mit offenen Augen. Sie war festgeschnallt – der Anblick der Gurte zerriss Liam das Herz. Sie mussten verhindern, dass sie sich bewegte, zumindest über Nacht. Ihr Blick wanderte zwischen Lily und Liam hin und her.
»Hallo, mein Schatz«, sagte Lily.
»Es tut weh«, sagte Rose.
»Ich weiß. Aber nicht mehr lange.«
»Bald ist es vorbei, Rose.« Liam ertrug es kaum, sie leiden zu sehen, aber er wusste, dass die Schwestern ihr gleich ein Schmerzmittel verabreichten und sie sich rasch von dem Eingriff erholen würde.
»Ehrenwort?«, flüsterte Rose mit rauher Stimme.
»Ehrenwort.« Liam berührte ihren Scheitel – wie sein Vater, der damals nach der Amputation ein ähnliches Versprechen abgegeben hatte; er wusste, genau das hätte jeder Vater gesagt und getan.
Kapitel 22
R ose war wach und öffnete die Augen, sobald man sie auf der Liege aus dem Operationssaal rollte. Die Medizin, die man ihr verabreicht hatte, machte sie benommen, aber sie versuchte trotzdem immer wieder, sich die Anschnallgurte herunterzureißen, die ihren Brustkorb umspannten. Sie wollte sich bewegen, laufen, ihre Mutter umarmen, wollte nach Hause.
Sie schlief viel.
Ihre Mutter und Dr. Neill wachten abwechselnd an ihrem Bett. Manchmal waren beide da, saßen so eng beieinander, dass sie miteinander zu verschmelzen schienen. Ihre Stimmen kamen und gingen in ihren Träumen, begleiteten sie im Schlaf und in ihren wachen Minuten. Wenn sie weinte, war sie oft nicht sicher, wer sie in die Arme nahm und tröstete. Ihr Brustkorb schmerzte.
Und dann war auch das vorbei. Als sie am nächsten Tag aufwachte, schien die Sonne, und ihr Brustkorb tat überhaupt nicht mehr weh. Vielleicht ein bisschen – die Schwester half ihr, sich im Bett aufzusetzen, wusch sie, und danach kam der Arzt, um die Nähte zu begutachten.
Ihre Mutter und Liam hielten sich im Hintergrund, als die Schwestern ihr halfen, das erste Mal ein paar Schritte zu gehen. Seit der Operation war weniger als ein Tag vergangen, aber sie war daran gewöhnt, jedermann in Erstaunen zu versetzen, weil sie so schnell wieder auf den Beinen war und das Bett verlassen konnte. Aufstehen und Stuhlgang galten hier als spektakuläre Ereignisse. So, als würde man in der Schule eine Eins mit Sternchen für eine Buchbeschreibung oder einen Mathetest bekommen. Sobald man beides geschafft hatte, war man auf dem Weg nach Hause.
Oder zumindest kam man aus der Intensivstation heraus und wurde auf eine normale Station
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