Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
meine, dass Schicksalsschläge sich im Nachhinein manchmal als … als glückliche Fügung erweisen.«
Sie neigte den Kopf und überlegte, was er damit sagen wollte, doch er ging schweigend weiter. Der Abstand zwischen ihnen kam ihr groß vor, aber sie hatte Angst, ihn zu überbrücken; er schien die Distanz zu brauchen.
»Ich dachte an den Hai«, fuhr er nach ein paar Minuten fort.
»Ich finde, der Hai war alles andere als eine glückliche Fügung. Du hast Connor verloren und einen Teil von dir selbst. Liam, du musst nicht so tun, als sei die Welt in Ordnung.« Er antwortete nicht.
Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Seine braunen Haare waren wellig, im Schein der Straßenlaternen von silbernen Strähnen durchzogen. Seine blauen Augen wirkten traurig. Sie erreichten das Charles River Hotel, das direkt hinter der Klinik gelegen war, und gingen zum Aufzug. Während der Fahrt nach oben überlegte Lily verzweifelt, was sie ihm sagen konnte, doch ihr fiel nichts ein. Ihr Zimmer befand sich in der vierzehnten, Liams in der sechzehnten Etage. Als sich die Tür im vierzehnten Stock öffnete, sah er sie an.
»Gute Nacht«, sagte sie.
»Gute Nacht, Lily.«
Sie ging in ihr Zimmer, durcheinander und aufgewühlt. Nicht nur, weil er während des Spaziergangs jede Berührung vermieden hatte – sondern wegen seiner kummervollen Miene und der Bemerkung über den Hai und weil kein Wort des Trostes über ihre Lippen gekommen war.
Ihre Gefühle befanden sich in Aufruhr. Sie ging in ihrem Zimmer auf und ab. Durch die Verletzungen, die sie in ihrer Ehe davongetragen hatte, war ihr Vertrauen erschüttert. Sie hatte alles zurückgelassen und war vor ihrem Mann geflohen. Innerlich glich sie einem Eisberg. Sie war erstarrt, Zelle für Zelle, war brüchig und hart geworden; sie hatte im Laufe der Zeit gelernt, sich in Acht zu nehmen – sich einen Panzer zuzulegen, keinen Mann zu nahe an sich heranzulassen. Die Nanouks waren ihre einzigen Freunde. Doch Liam …
In den letzten Wochen hatte sie das Gefühl gehabt, innerlich zu schmelzen.
»Willkommen im Tauwetter«, hatte sie bei Roses Geburtstagsparty zu Marisa gesagt. Was Marisa nicht wissen konnte, war, dass Lily von ihren eigenen Worten nicht wirklich überzeugt gewesen war. Sie hatte gedacht, sie sei gefühlskalt geworden, erstarrt, zu lange im Winter gefangen, ohne einen inneren Frühling erlebt zu haben, der diesen Namen verdiente.
Sie dachte an Liam – an den Ausdruck in seinen Augen, als er den Hai erwähnt hatte. Warum konnte sie nach allem, was er im Laufe der Jahre – und vor allem in diesem Sommer – für sie getan hatte, nicht einfach den ersten Schritt tun und ihn in die Arme schließen? Warum konnte sie ihm nicht sagen, dass sie für ihn da war und zuhören würde, wenn ihm nach Reden zumute war?
Lily zitterte innerlich. Sie nahm ihren Zimmerschlüssel und verließ den Raum. Da sie nicht auf den Fahrstuhl warten wollte, nahm sie die Treppe. Mit jeder Stufe wuchs ihre Angst. Ob ihr Entschluss ein Fehler war? Sie hatte den Männern entsagt – war felsenfest überzeugt gewesen, dass sich daran niemals etwas ändern würde. Liams Liebenswürdigkeit, Roses Zuneigung und ihre eigenen wachsenden Gefühle für ihn schienen unerheblich angesichts ihrer alten, schrecklichen und noch immer äußerst realen Ängste. Aber sie verdrängte sie und setzte ihren Weg entschlossen fort.
Sie fand sein Zimmer, Nummer 1625. Holte tief Luft und klopfte.
Liam öffnete die Tür. Er stand auf der Schwelle, sah sie überrascht an. Er trug Jeans und ein blaues Oxfordhemd. Sein linker Ärmel hing herunter, leer. Lily, die ihn noch nie so gesehen hatte, erschrak.
»Tut mir leid.« Er blickte an sich herab und klopfte gegen den leeren Ärmel, als könnte er seinen Arm so hervorzaubern. »Ich hätte …«
»Nein – bitte nicht. Es ist an mir, mich zu entschuldigen. Es tut mir leid, Liam.«
»Falls es dir unangenehm ist, schnalle ich die Prothese wieder um.«
Lily schüttelte lächelnd den Kopf. »Unangenehm? Liam, du hast gerade zwei Tage bei Rose in der Intensivstation verbracht. Du hast die Stiche, den Einschnitt gesehen … Solche Dinge sind mir doch nicht unangenehm!«
»Den meisten Menschen schon.«
»Ich bin nicht die meisten Menschen.«
Sie gingen zu dem Tisch am Fenster, an dem zwei Stühle standen. Im Raum war es dämmrig, so dass man gerade noch den Fluss ausmachen konnte, auf dem die Lichter der Großstadt tanzten. Es war eine ganz andere Aussicht als das
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