Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Arms?«
Liam nickte. »Ich musste vieles noch einmal ganz von vorne lernen. Und mir einprägen, bestimmte Dinge zu vermeiden.«
»Zum Beispiel?«
»Als ich den Arm verlor, hatte ich anfangs das Gefühl, er wäre noch da. Ich wachte nachts auf und wollte mit der linken Hand nach einem Glas Wasser greifen. Aber da war keine Hand. Ich war völlig verstört und frustriert. Wenn ich sie spüre, muss sie doch vorhanden sein, dachte ich. War sie aber nicht. Und das machte mich … wütend.«
»Das geht mir genauso«, sagte Rose leise.
»Klar, darauf möchte ich wetten.«
»Und was passierte sonst noch?«
»Ich war also gezwungen, alles mit dem rechten Arm zu erledigen. Auch Dinge, die ich früher mit links gemacht hatte. Ich musste ständig auf die andere Körperseite hinübergreifen. Was zur Folge hatte, dass meine rechte Schulter schmerzte. Und meine linke auch – denn nach einer Amputation schrumpfen und verkürzen sich die Schultermuskeln, und ich musste darauf achten, sie durch regelmäßige Übung zu kräftigen.«
»Ich greife auch dauernd auf die andere Körperseite. Aber mit dem linken Arm. Weil ich Angst habe, jemand könnte gegen mein Herz stoßen.«
»Das leuchtet mir ein.«
»Schon, aber dadurch werde ich schief und krumm. Was soll’s, meine Körperhaltung ist mir ohnehin egal.«
»Das ging mir genauso, Rose. Es ging mir nur darum, mit dem einen Arm doppelt so viel machen zu können. Aber irgendwann merkt man, wie wichtig eine gute Körperhaltung ist, weißt du. Selbst wenn es einem zunächst nicht bewusst ist. Sie ist unabdingbar für eine gesunde Wirbelsäule. Warte mal – was hältst du davon, wenn wir uns eine Liste der Dinge machen, auf die wir achten müssen? ›Herz schützen, Wirbelsäule schützen‹ – was noch?«
»Beide Arme benutzen.« Rose kicherte.
»Ach ja. Wie kann man das vergessen!« Liam tat, als mache er sich Notizen auf einem imaginären Block. Rose sah fasziniert zu, wie er ihn mit seiner Prothese hielt und mit seiner gesunden Hand schrieb. Lily spürte, wie eine Welle der Dankbarkeit sie überkam. Ihr Herz schmolz zusehends, wenn sie die beiden betrachtete.
»Wie war das damals?«, fragte Rose gleich darauf still.
»Als ich meine Prothese bekam? Nun, ihretwegen musste ich ein weiteres Jahr zur Physiotherapie. Um zu lernen, wie man sie benutzt.«
»Und die ganze Zeit warst du traurig.«
»Ja.« Liam hob den Blick. »Woher weißt du das?«
»Ich bin auch manchmal traurig. Ich habe auch jemanden verloren. Du hast deinen Bruder verloren und Mommy und ich haben auch jemanden verloren.«
»Rose?« Lily hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte.
»Meinen Vater. Ich hatte nie einen. Der Vater, der da war, wollte mich nicht.«
»Rose, es lag nicht an dir«, beteuerte Lily. Sie hatte mit ihrer Tochter absichtlich nie über ihn gesprochen. »Du bist nicht der Grund, dass wir keinen Kontakt zu ihm haben.«
»Der Grund spielt keine Rolle, sie hat nun mal das Gefühl.« Liam ergriff Roses Hand – und zum ersten Mal seit langer Zeit war Lily nahe daran, die Geduld mit ihm zu verlieren. Er hätte ihr in dieser Situation beistehen und Rose versichern müssen, dass sie keinerlei Schuld traf, dass sie ihren Vater nicht vertrieben hatte!
»Stimmt«, flüsterte Rose. »Deshalb funktioniert mein Herz nicht richtig.«
»Ich hatte ein ähnliches Gefühl. Ich war bei meinem Bruder, als er starb. Ich war älter als er, Rose. Ich machte mir ständig Vorwürfe und dachte – wenn ich nur besser auf ihn aufgepasst hätte. Schneller zu ihm geschwommen und imstande gewesen wäre, ihn zu retten – mich hätte es treffen sollen, nicht ihn.« Lily stählte sich, als sie sich daran erinnerte, was er ihr neulich nachts anvertraut hatte.
»Und du dachtest, der Hai hätte dir den Arm abgerissen, als Strafe dafür, dass du böse warst?«, fragte Rose.
»Ja. Davon war ich lange überzeugt.«
»Genau wie ich. Ich dachte auch, mein Vater hätte uns verlassen, weil ich böse war.«
»Schatz …«, begann Lily, suchte verzweifelt nach den richtigen Worten.
»Aber du weißt, dass es nicht stimmt«, sprang Liam in die Bresche. »Das weißt du doch, Rose, oder? Du bist das wunderbarste Mädchen, das es gibt. Manche Dinge geschehen einfach. Du wurdest mit Herzdefekten geboren – doch das hat nichts mit Gut oder Böse zu tun. Wenn das so wäre, hättest du das stärkste, beste Herz der Welt.«
»Und der Hai hat dir auch nicht den Arm abgerissen, weil du böse warst,
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