Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Glück zu bersten – Rose erholte sich schnell von der Operation und wegen Liam.
Rose wurde binnen vierundzwanzig Stunden nach dem Eingriff von Schläuchen und Maschinen befreit, und als sie ihr neues Zimmer bezog, konnte sie sich ungehindert bewegen. Sie war fest entschlossen, viel spazieren zu gehen, damit die Ärzte sie bald nach Hause ließen. Lily hatte noch nie erlebt, dass Rose dermaßen erpicht darauf war, die Klinik zu verlassen – als hätte auch sie endlich den magischen Schlüssel entdeckt, den andere Menschen besaßen und der jeden Tag lebenswert machte.
Normalerweise war sie nach Operationen eher zögerlich und ungemein vorsichtig, darauf bedacht, kein Risiko einzugehen – sie umklammerte mit der linken Hand ständig ihre Schulter und wölbte den Rücken, um den Herzbereich zu schützen. Lily verstand solche Manöver sehr gut. Doch dieses Mal war Rose bemüht, ohne Hilfe zu gehen, in aufrechter Haltung zu stehen, sich die vielen Übungen zu vergegenwärtigen, die man ihr nach anderen Eingriffen gezeigt hatte. Sie wollte sich den Besuch bei dem Physiotherapeuten ersparen. Lily hatte nie herausgefunden, warum – es war ihr schleierhaft, weshalb Rose die Übungen, die ihr guttun würden, nach allem, was sie durchgemacht hatte, so bedrohlich fand.
Liam kehrte nach erfolgreicher Operation wieder nach Hause zurück, um sich in seine liegen gebliebene Arbeit zu stürzen. Der Abschied war für beide niederschmetternd – bei dem Gedanken an die bevorstehende Trennung fühlte sich Lily wie am Boden zerstört. Aber er rief jeden Morgen und jeden Abend an, und am dritten Tag war er wieder da, als sei die Entfernung einfach zu groß – Lily war überglücklich.
Rose nicht minder. Sie blühte auf wie die Blume, deren Namen sie trug, wurde mit jeder Minute rosiger und munterer. Lily hielt sich im Hintergrund, wenn Liam und sie lachten und redeten, wenn er ihr auf dem Laptop Nanny zeigte, das blinkende Licht jenseits des Bostoner Hafenbeckens.
»Warum mag sie wohl hier sein?« Rose hatte diese Frage immer wieder gestellt, weil sie nicht müde wurde, die Antwort zu hören.
»Schwer zu sagen«, erwiderte Liam und sah Lily an. »Aber wir glauben, dass sie in deiner Nähe sein möchte.«
»Sie kennt mich doch gar nicht!«
»Ich denke schon.«
»Wie denn? Ich bin ein Mädchen und sie ist ein Wal. Wir haben nie miteinander geredet oder gespielt, sind nie zusammen geschwommen. Ich kenne sie, weil Mommy viele Stickbilder von ihr gemacht hat, die in meinem Zimmer hängen, aber sie kennt mich nicht.«
»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Sie erklärt, warum ich davon überzeugt bin, dass Nanny dich kennt. Sie handelt von einem Fischadler und einer schwarzen Katze.«
»Oh …«
Roses grüne Augen weiteten sich, und ein strahlendes Lächeln erhellte ihr Gesicht. Doch genau in dem Moment kam die Physiotherapeutin zur Tür herein, um ihr zu erklären, was sie erwartete, sobald sie nach Hause durfte. Sie zeigte ihr verschiedene Übungen und schärfte ihr ein, die linke Hand unten und die Wirbelsäule gerade zu halten; dann vergewisserte sie sich, dass Lily Namen und Adresse einer Physiotherapie-Praxis in der Nähe von Cape Hawk hatte. Lily versicherte es ihr.
Als die Therapeutin gegangen war, wirkte Rose sichtlich niedergeschlagen. Sie sah Liam an, schien darauf zu warten, dass er sie mit der Geschichte von dem Fischadler und der schwarzen Katze aufheiterte.
Lily war genauso gespannt. Sie hatte damit gerechnet, dass Liam unverzüglich mit dem Erzählen beginnen würde, um Rose von dem Gedanken an das von der Physiotherapeutin skizzierte, anstrengende Übungsprogramm abzulenken. Obwohl nichts gegen das Programm einzuwenden war – in Lilys Augen zumindest sogar Spaß zu machen versprach –, fand Rose die Aussicht offenbar entmutigend. Liam sah ebenfalls beunruhigt und aufgewühlt aus.
»Das ist kein Zuckerschlecken, stimmt’s?«, fragte er.
Sie legte den Kopf zur Seite, als wüsste sie nicht, was er meinte. Doch vermutlich hatten seine Augen ihr verraten, dass sie eine verwandte Seele vor sich hatte, einen Leidensgenossen, der sich in ihre Lage versetzen konnte. Sie schüttelte stumm den Kopf und beugte ihn so tief, dass ihr Kinn die Brust berührte. Als sie den Blick hob, war ihr Gesicht tränennass.
»Ich weiß heute noch, was für eine Tortur das war«, fuhr Liam fort.
»Musstest du auch zur Physiotherapie?«
»Ja. Sechs Monate lang – und danach noch einmal ein Jahr.«
»Wegen deines
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