Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
ersten Stein, mit dem Jessica und sie Fußball gespielt hatten. Er hatte gesagt, ihr Geburtstag sei etwas Besonderes, ein Tag, den man rot im Kalender anstreichen sollte.
»Ein wortkarger Mann«, sagte ihre Mutter in dem Tonfall, der Bemerkungen über Menschen vorbehalten war, die sie nicht besonders mochte oder verstand.
Rose lehnte ihre Schulter fest gegen den steinernen Fischer. Während ihre Mutter dem Meeresforscher nachsah, hob Rose den Blick zum Gesicht der Statue. Der Fischer trug einen breitkrempigen Südwester auf dem Kopf, hielt eine Laterne in die Höhe und schien aufs Meer hinauszuspähen. Im Sockel waren die Namen aller Fischer des Ortes eingraviert, die auf hoher See verschollen waren – das Monument war zu ihrem Gedenken errichtet worden.
Der steinerne Fischer wachte über alle Menschen, die ver-misst wurden, ungeachtet dessen, wo sie sich gerade befanden. Er war aus Granit, genau wie die blauen Felsenklippen, die hoch über der Stadt aufragten. Rose betrachtete ihre blauen Fingerspitzen. Was wäre, wenn sie überall blau anlaufen würde, kalt wie der Stein? Wie würde ihre Mutter darauf reagieren?
»Gleich ist Feierabend. Ich werde heute pünktlich schließen«, sagte ihre Mutter.
Rose nickte. Sie sah, wie der Meeresforscher zu seinem Büro hinüberschlenderte. Er wechselte ein paar Worte mit Jessica, die auf der Treppe stand. Dann ging er hinein. Rose hatte ein flaues Gefühl im Magen, als Jessica zu ihr herüberkam. Ihre Freundschaft hatte sich soeben verändert; egal, was passierte, sobald jemand sie in diesem Zustand sah, war nichts mehr wie früher.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Jessica.
»Es geht mir gut. War nichts Schlimmes.«
»Du hast ausgesehen wie ein Gespenst – schneeweiß.«
»Es geht mir besser.«
»Soll ich dich nach Hause fahren, Jessica?«, fragte Roses Mutter.
Jessica zögerte, schien angestrengt nachzudenken. Rose spürte, wie sie errötete – war ihre Freundschaft schon zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte? Fand Jessica es peinlich, mit ihr zusammen gesehen zu werden? Oder hatte es mit Jessicas Geheimnissen zu tun, der Andeutung, dass ihr richtiger Name vielleicht gar nicht Jessica Taylor lautete? Hatten sie sich wirklich nach dem Sänger James Taylor benannt? Vielleicht mochte Jessicas Mutter Liebeslieder, genau wie Rose.
»Eigentlich darf ich zu niemandem ins Auto steigen, ohne meine Mutter vorher zu fragen, aber ich denke, in diesem Fall ist das in Ordnung.«
»Wir rufen deine Mutter an – wie wäre es damit?«, schlug Lily vor.
Und so machten sie es.
Kapitel 3
W ährend sie Jessica nach Hause fuhr, war Lily mit drei Dingen gleichzeitig beschäftigt. Sie behielt die schmale Straße im Auge, warf immer wieder einen prüfenden Blick auf Rose und versuchte das Ausmaß der Angst einzuschätzen, die das Geschehen bei Jessica hervorgerufen hatte. Sie schaute in den Rückspiegel und lächelte. »Danke, dass du mich geholt hast. Dass du so schnell reagiert hast.«
»Sie schien sich nicht besonders gut zu fühlen«, erwiderte Jessica.
»Das hast du ganz richtig erkannt. Aber jetzt geht es ihr wieder gut.«
»Was ist denn passiert?«
Lily sah Rose an. Das war der Augenblick, vor dem sich Rose stets aufs Neue fürchtete. Da der Ort so klein war, kannten die meisten Bewohner sie seit ihrer Geburt. Sie kannten sie, hatten sie ins Herz geschlossen und, was Rose am meisten missfiel, nahmen fortwährend Rücksicht auf sie. Lily wusste, dass sie Jessica unverzüglich mit einer vagen Antwort abspeisen konnte, um das Thema zu beenden. Oder sie wählte den direkten Weg und sagte die Wahrheit. Im Laufe der Zeit hatte sie indes gelernt, diese Entscheidung Rose zu überlassen. Wenn sie wollte, dass ihre Freundin erfuhr, was ihr fehlte, würde sie es ihr selbst sagen.
»Es ist, als wäre ich verhext«, sagte Rose.
»Verhext?«, wiederholte Jessica verständnislos.
Sie fuhren an einigen Sommerhäusern und der alten Mühle vorbei. Die Straße wurde von steil aufragenden Klippen und hohen Fichten überschattet. Lily musterte ihre Tochter im Rückspiegel – die welligen braunen Haare, die grünen Augen mit den goldenen Sprenkeln. Sie musste ihr Bedürfnis bezwingen, sich einzumischen und ihrer Tochter bei der Erklärung zu helfen. Sie sah, wie Rose mühsam nach Worten suchte, und wusste, dass sich die Freundschaft zwischen den Mädchen verändern würde, wie unmerklich auch immer, sobald es ausgesprochen wurde.
»Ja, verhext. Von einem bösen
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