Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
dickstämmige rote Rosen, sorgfältig gestutzt und an einem Rankspalier neben der Tür hochgebunden, begannen gerade zu blühen, die Knospen waren wie kleine rote Feuerzungen in der Nachmittagssonne.
»Danke. Ja, gärtnern macht mir Spaß«, erwiderte Marisa.
»Ihre Rosen gefallen mir«, ließ sich Rose vom Rücksitz vernehmen.
»Es sind meine Lieblingsblumen. Schon immer, seit meiner Kindheit. Deshalb gefällt mir auch dein Name so gut.«
»Danke.« Rose lächelte.
»Ich dachte, hier gäbe es andere Wachstums- und Blütezeiten als diejenigen, an die ich gewöhnt bin. Aber ich habe festgestellt, dass meine Blumen so üppig blühen, als befänden wir uns in Neu-England oder noch weiter südlich.«
»Sie werden bemerken, dass wir hier früher dran sind als die anderen Regionen in Nova Scotia«, klärte Lily sie auf. »Die Annapolis-Strömung verläuft direkt vor der Küste und sorgt für ein wesentlich wärmeres Klima. Deshalb beginnen Ihre Rosen bereits zu blühen. In diesem Punkt sind wir Ingonish und sogar Halifax um mindestens drei Wochen voraus.«
»Aha, daher«, meinte Marisa. Dann bückte sie sich, blickte durchs Fenster und fügte hinzu: »Als Jessica anrief, um Bescheid zu sagen, dass sie nach Hause gefahren wird, erwähnte sie kurz, dass Rose etwas passiert sei. Alles in Ordnung mit ihr?«
»Rose hat ein schwaches Herz – wie Großmutter«, erklärte Jessica. Ihre Stimme klang zittrig, als hätte sie lange versucht, sich mit aller Gewalt im Zaum zu halten, und plötzlich brach sie in Tränen aus.
»Nein, ganz so ist es nicht«, sagte Lily. »Rose leidet unter einem angeborenen Herzdefekt, mehreren, genauer gesagt. Aber sie hat die besten Ärzte, die es gibt, und im Juli, gleich nach ihrem Geburtstag, wird sie operiert, um einen alten VDS-Patch gegen einen neuen auszutauschen.« Marisa nickte, als wüsste sie, wovon die Rede war. »Wir können davon ausgehen, dass es der letzte operative Eingriff sein wird. Warte nur ab – danach wird sie sich sogar an Wettrennen beteiligen können …«
»Und gewinnen«, beteuerte Rose.
Jessica schauderte und weinte noch heftiger. Marisa schloss sie in die Arme, und Lily musste hilflos zusehen. Sie konnte geradezu spüren, wie Roses Freundschaft hier und jetzt zerrann.
»Was ist mit deiner Großmutter passiert?«, erkundigte sich Rose.
»Sie … sie …«
»Sie hatte einen Herzanfall«, sprang Marisa in die Bresche.
»Ich kriege keinen«, versicherte Rose.
Lily und Marisa blickten sich abermals an. Die Atmosphäre war erfüllt von Erinnerungen an Mütter und Großmütter, die abwesend, aber dennoch irgendwie zugegen waren. Lily dachte an ihre eigene Mutter, die ihr Kraft verlieh – sie spürte ihre Anwesenheit unaufhörlich. Die hohen Kiefern über ihren Köpfen rauschten im lauen Sommerwind.
»Du weißt, dass wir auf dich zählen.« Lily blinzelte ihrer Tochter zu. »Ich hoffe, dass ihr beide kommt, um mit uns Roses Geburtstag zu feiern und ihr die Daumen für die bevorstehende Operation zu drücken.«
»Die Party findet auf einem Boot statt, und wir fahren raus, um Wale zu beobachten!«, sagte Rose. »Alle meine Freundinnen sind dabei, auch die Nanouks.«
»Die was?«, fragte Marisa.
»Die Nanouks aus dem Frostigen Norden«, erläuterte Lily. »Sobald Sie den ersten Winter in diesen Breiten verbracht haben, werden Sie verstehen, was damit gemeint ist. Wir treffen uns regelmäßig, um zu sticken, zu schlemmen und zu lästern.«
»Klingt himmlisch.«
»Sie kommen also mit auf die Bootsfahrt?«
»Wir sind dabei. Einverstanden, Jess?«
Jessica weinte immer noch leise vor sich hin. Sie musste viel verkraften für eine Neunjährige, unerbittliche Wahrheiten über das, was das Schicksal bisweilen bereithielt – wie im Fall ihres Vaters und ihrer neuen Freundin. Lily versetzte der Gedanke einen Stich. Sie hatte Rose zeitlebens vor solchen unerbittlichen Wahrheiten schützen wollen.
»Ohne dich wäre es nicht dasselbe«, sagte Rose. »Bitte versprich mir, dass du kommst, Jessica. Bitte! Ich schwöre, ich bin fast normal.«
Fast normal. Die Worte zerrissen Lily das Herz.
»Wir kommen«, beeilte sich Marisa zu sagen, die Lily angesehen hatte, was sie empfand.
Jessica nickte, zaghaft lächelnd. Sie fragte ihre Mutter, ob Rose und Lily kurz auf einen kleinen Imbiss hereinkommen könnten, aber Marisa tat, als hätte sie nichts gehört. Sie winkte ihnen zum Abschied zu und lotste Jessica zum Haus. Als sie losfuhren, verrenkte sich Rose auf ihrem Sitz
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