Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Zauberer.«
Lily blickte ihre Tochter verdutzt an.
»Er ist schuld daran, dass deine Hände blau werden?«
»Ja. Und dass ich mich manchmal schwindelig und schwach fühle. Er hat es auf mein Herz abgesehen.«
»Rose …«, begann Lily.
»Wirklich?« Jessica klang beunruhigt. »Verhext er mich jetzt auch? Es ist Captain Hook, oder? Ich habe gesehen, wie er vor dir stand, kurz bevor du dich hinsetzen musstest!«
»Nein, er doch nicht. Er ist klasse. Der böse Zauberer lebt weit weg von hier, auf der anderen Seite des Fjords, in einer Höhle auf der allerhöchsten Felsenklippe, umgeben von wild wuchernden alten Kiefern. Manchmal verwandelt er sich in einen Fischadler. Dann hört man ihn frühmorgens krächzen, wenn er über die Bucht gleitet, auf der Suche nach kleinen Leckerbissen.«
»Rose Malone«, sagte Lily mahnend. Ihre Tochter sah sie trotzig an. Sie wusste, dass ihre Mutter darauf verzichten würde, sie im Beisein ihrer Freundin rundheraus einer Lüge zu bezichtigen; andererseits würde sie auch nicht zulassen, dass Jessica, die gerade erst in diesen entlegenen, ein wenig unheimlichen Teil Kanadas gezogen war, zu der Schlussfolgerung gelangte, hier gäbe es einen bösen Zauberer, der kleine Mädchen verhexte. Die Straße schraubte sich hinter der kleinen Ortschaft immer weiter die Rinne des Gletschers hinauf, bis zu einem Plateau, das Ausblick auf die weitläufige blaue Bucht bot.
»Hier wohne ich«, sagte Jessica, als sie zu einem kleinen weißen Haus gelangten.
»Jessica, in Wirklichkeit gibt es natürlich keinen bösen Zauberer«, erklärte Lily.
»Doch, gibt es wohl«, widersprach Rose. »Und er durchbohrt die Herzen der Menschen mit einem Eissplitter, so dass niemand sie liebt. Die Liebe wohnt nämlich im Herzen.«
»Rose, alle lieben dich.« Lily musste wider Willen lächeln. »Die Geschichte stimmt hinten und vorne nicht, du solltest dir etwas Besseres ausdenken.«
»Also gut. Er hat mein Herz verhext, so dass alle möglichen verrückten Dinge passieren. Ihm habe ich mein krankes Herz zu verdanken.«
»Meine Großmutter hat auch ein krankes Herz.« Jessica runzelte die Stirn. »Aber dafür bist du noch viel zu jung.«
»Das können sogar Säuglinge bekommen. Wie bei mir, gleich nach der Geburt.«
»Kriege ich das auch?« Jessicas Stirnrunzeln vertiefte sich.
Nun blieb Lily keine andere Wahl, als einzuschreiten. »Nein«, erwiderte sie bestimmt. »Roses Herzkrankheit ist angeboren, du kannst dich nicht anstecken oder so. Sie hat die besten Behandlungen bekommen, die man sich nur vorstellen kann, und es geht ihr prima.«
»Ich darf nur nicht von der Schule aus zu Fuß nach Hause laufen«, erklärte Rose. »Oder andere anstrengende Dinge tun, bis ich die letzte Operation hatte. Sie findet noch in diesem Sommer statt, und danach geht es mir richtig gut. Dann kann ich rennen und alles.«
In diesem Moment wurde die Haustür geöffnet, und eine Frau trat auf die Veranda hinaus. Sie blieb stehen und beobachtete, wie Jessica sich verabschiedete. Lily winkte. Die Frau schien zu zögern – war offenbar unschlüssig, ob sie herüberkommen und die Fremde begrüßen sollte. Lily sah, wie sie sich für die Begegnung wappnete – sich buchstäblich stählte, bevor sie auf das Auto zuging.
Jessica öffnete die Tür, um auszusteigen. Lily spürte, mit welcher Besorgnis Rose dem Abschied von ihrer Freundin entgegensah. Sie wusste, dass dies der Augenblick der Entscheidung war. Wie würde Jessica reagieren, nach allem, was sie erlebt hatte? Lily wünschte, sie wäre imstande, ihre Tochter zu trösten, ihr zu versichern, dass es keine Rolle spielte, dass Jessica sie mochte, so oder so.
»Hallo, vielen Dank, dass Sie Jess nach Hause gefahren haben«, sagte die Frau.
»Gern geschehen. Übrigens, ich bin Lily Malone – Roses Mutter.«
»Marisa Taylor – Jessicas Mutter.«
Die Frauen lächelten, wohl wissend, dass sich hinter der knappen Erklärung eine ganze Lebensgeschichte verbarg. Marisas Augen blitzten mutwillig auf, und Lily hatte das Gefühl, dass sie ein weiteres potenzielles Mitglied im Club der Nanouks vor sich haben könnte. Jessica stand dicht neben ihrer Mutter und blickte Rose durch das Autofenster an.
»Wie man sieht, gärtnern Sie gerne. Ihre Blumenkästen sind herrlich.« Sie deutete auf die bunte Pracht an den Fenstern: Geranien, Petunien, blaues Eisenkraut und ganze Kaskaden von Efeuranken hoben sich in Rosa, Weiß und Blau vor dem weiß getünchten Cottage ab. Einige alte,
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