Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
den Hals, um ihre neue Freundin und Marisa so lange wie möglich im Blick zu behalten, bis Lily unterhalb der Granitklippen um eine Kurve bog und die lange steile Küstenstraße hinunter nach Hause fuhr.
Marisa schloss die Haustür hinter sich; ihre Handfläche war feucht und rutschte auf dem Messingtürknopf ab. Sie wischte sich die Hände an ihrer Jeans trocken und ging in die Küche, um Jessica einen kleinen Imbiss vorzusetzen. »Können die beiden kurz hereinkommen?«, hatte Jess wissen wollen. Lily hatte es gehört und gesehen, wie sie die Frage ignorierte. Marisas Blick war zum Himmel gerichtet, auf den Raubvogel, der hoch über ihnen dahinflog – ein Fischadler, der einen Fisch in seinen Fängen hielt. Sie hatte krampfhaft Lilys Blick gemieden. Den Blick von Mutter zu Mutter – die Sprache des Lebens, die keiner Worte bedurfte. Lily hatte ihre Reaktion bemerkt, und mit Sicherheit wunderte sie sich nun.
»Mom, gehen wir wirklich zu der Party?«, fragte Jessica.
»Natürlich kannst du gehen.« Marisa hörte wieder ihre eigene Stimme im Gespräch mit Lily: ihr spontanes, begeistertes Wir sind dabei. Damit ihr Bedauern echt wirkte, wenn sie einen Rückzieher machte.
»Damit ich so tun kann, als wäre es meine Party?«
»Schatz …«
»Ich darf meiner besten Freundin nicht einmal erzählen, dass wir am selben Tag Geburtstag haben!«
»Jess, du weißt, warum. Familiennamen, Geburtstage und Sozialversicherungsnummern werden von manchen Leuten benutzt, um jemanden aufzuspüren.«
»Du meinst Ted. Warum sagst du nicht einfach, wie es ist, statt so zu tun, als sei alles in Ordnung? Wir verstecken uns vor ihm, nicht vor manchen Leuten. «
Marisa holte tief Luft. Jessica hatte den Umzug und alles, was damit zusammenhing, gut verkraftet. Zuerst war sie dermaßen darüber erleichtert gewesen, wegzukommen, dass ihr alles recht gewesen wäre. Sie hatte ihre neue Identität angenommen als wäre es ein Spiel. Mit Unterstützung von Susan Cuccio, Mitarbeiterin im Zentrum, hatten sie neue Namen, Geburtstage und Familiengeschichten ersonnen. Jessica war überaus hilfreich gewesen, was die Familiengeschichte betraf; sie hatte dazu beigetragen, reale und geliebte Erinnerungen – an ihre Großmutter, ihre erste Katze, die gemeinsame Liebe zur Musik – mit den fiktiven Aspekten zu verknüpfen.
Doch das änderte sich nun, vor allem, weil ihr Geburtstag nahte. Marisa war ihr keine Hilfe gewesen: Sie hatte gegen eine aufkeimende Depression ankämpfen müssen – es fiel ihr schwer, den eingeschlagenen Kurs beizubehalten, morgens aufzustehen und alles zu erledigen, was sie erledigen musste. Sie war in ihrem Entschluss wankend geworden, fragte sich, ob sie mit ihrer Flucht in den hohen Norden die richtige Entscheidung getroffen hatte. Kein Wunder, dass Jessica aus dem Tritt geraten und verwirrt war.
»Du erlaubst mir, zu Roses Party gehen, aber zu Paulas damals durfte ich nicht.«
»Das war etwas anderes.«
»Weil er nicht hier ist?«
»Schatz …«
»Denkst du, dass er uns irgendwann findet?«
»Über Ted wollen wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Wir haben genug damit zu tun, uns um unsere eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Also, was soll’s denn sein – Erdnussbutter und Gelee oder Hafermehlkekse?«
»Kekse und Milch. Es gefällt mir hier nicht besonders, Mom. Wenn man von Rose absieht. Ihretwegen ist diese kalte, steinige Gegend fast erträglich. Rose ist die allerbeste Freundin, die ich je hatte. Mom, wird sie wirklich wieder ganz gesund?«
Marisa ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür, damit Jessica nicht merkte, wie ihre Hände zitterten. Verschleierungstaktik nannte man das … wenn man dem eigenen Kind gegenüber nicht ganz offen war und es im Dunkeln ließ.
»Mom, sag schon!«
Marisa dachte daran, was Lily gesagt hatte – dass Rose an verschiedenen Herzdefekten litt. Das bedeutete, mehrere Fehlbildungen. VSD-Patch, also brauchte die Herzkammerscheidewand einen Flicken. Die Aorta auch? War die Hauptschlagader ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen? Sie besaß immer noch ihre Lehrbücher aus der Schwesternschule – aber wo? Sobald sie fündig geworden war, konnte sie vielleicht mehr darüber in Erfahrung bringen, was Rose fehlte. Kinderkardiologie war nicht ihr Fachgebiet, sie hatte nie auf einer solchen Station gearbeitet, aber zumindest konnte sie Jessica helfen, die Vorgänge besser zu verstehen.
»Ich wünsche mir, dass sie gesund wird.« Jessica hob den Blick, als Marisa Milch
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