Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
und ausschließlich Mädchen zur Party eingeladen waren, hätte sie ihn gerne dabeigehabt. Sie wusste, dass er sich normalerweise nicht ans Ruder eines Walbeobachtungsbootes stellte, aber vielleicht konnte er in ihrem Fall eine Ausnahme machen. Sie hätte ihn gerne darum gebeten, aber sie war zu schwach.
»Ja, Rose. Wegen deines Geburtstags. Lass deinen Kopf lieber unten. Braves Mädchen. Und tief durchatmen.«
Es gab so viel, was sie ihm sagen wollte; sie hätte ihn gerne zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen, ihn gefragt, ob es weh getan hatte, den Arm zu verlieren, hätte ihm gerne gesagt, wie leid es ihr tat, dass er sich damals im Krankenhaus mehreren Operationen unterziehen musste, genau wie sie. Aber sie schaffte es nicht …
Jetzt kam ihre Mutter – Rose konnte ihre Anwesenheit spüren, bevor sie sie hörte oder sah. Ihre Mutter rannte quer über den Platz und stand plötzlich unmittelbar vor ihr – Rose wusste es, bevor sie auch nur einen Ton von sich gab. Der Ozeanograph hielt weiter ihre Hand. Als er sie losließ, drückte er sie leicht. Rose erwiderte den Druck.
»Ich bin bei dir, Rose«, sagte ihre Mutter.
Rose spürte ihre Arme um ihre Schultern und war sich sicher, dass alles gut werden würde.
»Wir sind zu Fuß nach Hause gegangen«, sagte sie. Ihre Mutter nahm sie behutsam in die Arme, darum bemüht, keinen Druck auf Herz oder Lunge auszuüben. Rose konzentrierte sich darauf, zu atmen, Sauerstoff zu bekommen. Sie betrachtete Dr. Neills Armprothese, seine Hand – als kleiner Junge hatte er an dieser Stelle einen Haken gehabt, und die Kinder in der Stadt hatten ihn hinter seinem Rücken Captain Hook genannt. Der gemeine Spitzname haftete bis heute an ihm. Rose blickte auf ihre eigenen Hände hinab. Die leicht keulenförmigen Fingerspitzen waren immer noch blau, aber weniger als vor ein paar Minuten. Sie bekam inzwischen besser Luft und machte Anstalten, sich aufzurichten.
»Bleib lieber noch einen Moment so sitzen«, schlug Dr. Neill vor.
»Danke, dass du ihr geholfen hast«, sagte Roses Mutter.
»Keine Ursache. Ich bin froh, dass ich zur Stelle war.«
»Du wusstest, was zu tun ist …«
Er antwortete nicht. Rose hob den Blick und sah, dass er ihre Mutter anschaute – ihre Augen trafen sich für eine Sekunde, und ihre Mutter errötete. Vielleicht, weil sie dachte, ihre Bemerkung sei töricht gewesen. Natürlich wusste er, was zu tun war; er kannte Rose schließlich seit ihrer Geburt. Als Rose aufstand, flimmerten winzige Sterne vor ihren Augen.
»Es geht mir besser«, erklärte sie, ohne den grellen Lichtblitzen Beachtung zu schenken.
»Warte noch einen Moment«, sagte ihre Mutter, aber Rose schüttelte ungestüm den Kopf.
»Es geht mir gut – wir müssen heute nicht nach Boston fahren. Wir können bis zum festgesetzten Termin warten.«
»Du hast den Bus verpasst?«, fragte ihre Mutter, die Bemerkung über Boston ignorierend.
Rose musste nicht einmal nicken. Ihre Mutter kannte sie durch und durch. »Du hättest mich anrufen können.«
Rose schloss die Augen und dachte an Jessica. Ihre neue Freundin wusste längst nicht alles über sie: Sie hatte beispielsweise keine Ahnung, dass Rose bei keinem sportlichen Ausscheidungskampf, keiner Mannschaftsbesprechung, keinem Fußballspiel in der Schule mitmachen konnte. Sie hatte keine Ahnung, dass Rose immer bis zur Haustür gefahren wurde – im Gegensatz zu den anderen Kindern, die der Schulbus an der nächsten Kreuzung oder Zwischenstation absetzte.
»Du bist den ganzen Weg zu Fuß gegangen? Von der Schule bis hierher?«
»Ja.« Rose bekam wieder Luft. Dr. Neill hatte direkt neben ihr gestanden, doch mit einem Mal wich er zurück, als wollte er sie nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, indem er zuhörte, wie sie von ihrer Mutter ausgeschimpft wurde. Rose hob den Blick, aber er hatte ihnen bereits den Rücken zugekehrt. »Mom.«
»Schon gut, Rose.«
»Meine Party findet trotzdem statt, oder?«
»Roses Geburtstag«, sagte Dr. Neill. »Wenn man einen Tag im Kalender rot anstreichen sollte, dann diesen.«
»Nochmals vielen Dank, Liam«, murmelte ihre Mutter mit seltsam strahlenden Augen.
»Keine Ursache. Pass gut auf dich auf, Rose.«
»Du auch.« Sie sah ihm nach. Weiße Wolken zogen durch den blauen Sommerhimmel, und Seemöwen kreisten über dem Kai. Als sie nach unten blickte, sah sie Fischschuppen in sämtlichen Regenbogenfarben schillernd auf dem Boden liegen. Vorsichtig steckte sie ein paar in ihre Tasche, zu dem
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