Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
jemals etwas ändern wird.«
»Manche Dinge sind zu schrecklich, um darüber hinwegzukommen«, sagte Marisa.
Alle drehten sich um und sahen sie an. Lily hatte sie mit den anderen bekannt gemacht, als sie an Bord gegangen waren, und sie wusste, dass die Frauen neugierig waren. Doch Marisa machte einen Rückzieher und wandte sich um, als bedauere sie ihre vorschnellen Worte. Lily warf abermals einen Blick zu Gerard hinüber und stellte erleichtert fest, dass er sein Boot wendete und Kurs auf das offene Meer nahm.
»Marisa, warte«, sagte Anne. »Wir würden gerne mehr über dich erfahren.«
»Ja, erzähl uns doch etwas über dich, während die Mädchen an Deck sind«, meinte Cindy. »Was hat dich eigentlich nach Cape Hawk geführt? Ist dein Mann Fischer? Oder Meeresforscher?«
»Ich bin … ähm, geschieden.« Marisa schien sich unbehaglich zu fühlen, wie Lily feststellte, als sie nun ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf sie richtete – nicht peinlich berührt, sondern vielmehr, als gelte es, ein Geheimnis zu wahren und keinerlei Einzelheiten verlauten zu lassen. Lily kannte die Dynamik sehr gut, die dahinter stand.
»Es gibt nur drei Dinge, die einen Menschen in diese Einöde treiben können«, erklärte Alison. »Familienbande, wahnsinnige Liebe zur Natur oder die Flucht aus einer gescheiterten Ehe.«
Alison hatte vermutlich mit einem der Gründe ins Schwarze getroffen, dachte Lily, als Marisa errötete.
»Ich dachte früher genau wie du, dass man über manche Dinge nie hinwegkommt«, erklärte Marlena. »Treulosigkeit, Gewalt und Trotzverhalten. Die großen drei.«
»Ich kann nicht darüber reden«, antwortete Marisa.
»Die Mädchen sind draußen. Sie hören nichts«, beteuerte Anne.
Lily rückte näher an Marisa heran. Sie hätte ihr gerne erklärt – oder ihr zumindest das Gefühl vermittelt –, dass es den Frauen keineswegs um Klatsch und Tratsch ging. Sie hatten es nicht auf die blutrünstigen Einzelheiten aus dem Leben der anderen abgesehen.
»Einige von uns waren früher anderswo zu Hause, weit weg von hier«, sagte Lily. »Inzwischen stehen wir uns so nahe wie Schwestern.«
»Das kenne ich, ich habe eine Freundin, mit der es mir genauso geht.« Marisas Augen begannen zu glitzern. »Ich habe schon lange nicht mehr mit ihr gesprochen …«
»Vermisst du sie?«, fragte Lily.
»Mehr als ihr euch vorstellen könnt.«
»Warum rufst du sie nicht an?«
»Weil er möglicherweise ihr Telefon abhört. Er sagte, er würde uns nie – niemals – gehen lassen.«
»Aber ihr seid ihm entkommen.«
»Ja«, murmelte Marisa. »Trotzdem fühlen wir uns, als säßen wir in der Falle.«
»Weil ihr Angst habt?«
»Genau, aber auch aus anderen Gründen … Wir können uns nicht frei bewegen. Können nicht wir selbst sein …«
»Das geht vorbei«, sagte Lily.
»Ich fühle mich hier manchmal sehr einsam.«
»Jetzt hast du uns«, erklärte Cindy. »Wir kennen uns noch nicht lange, aber wir würden dich gerne in unseren Kreis aufnehmen. Wir freuen uns, dass du da bist, Marisa.«
Marisa versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht ganz. Lily, die bemerkte, dass sie überfordert war, nahm ihren Ellenbogen. »Komm, wir holen uns ein Glas Punsch, ja?« Sie lotste Marisa zum Buffet.
Alles schien so ungezwungen – zwei Frauen, die rosafarbenen Punsch in Pappbecher gossen und sich einen kleinen Teller mit Käsewürfeln und Obst nahmen. Judes Stimme war durch das geöffnete Fenster zu hören: Er erklärte den Mädchen, dass Bartenwale ihre Nahrung filterten und jeden Tag vier bis fünf Tonnen Plankton vertilgten, das Gewicht eines ausgewachsenen Elefanten. Die Nanouks unterhielten sich immer noch angeregt, wobei einige mit einer Kreuz- und Petit-Point-Stickerei beschäftigt waren, während sich eine Geschichte an die andere reihte.
»Als du sagtest, dass du dich einsam fühlst, meintest du wegen ihm, habe ich recht?«, fragte Lily.
»Wegen ihm?« Marisa sah erschrocken aus.
»Deinem Mann. Oder vielmehr Exmann – du sagtest ja, dass du geschieden bist. Ist er Jessicas Vater?«
»Stiefvater«, berichtigte Marisa, den Becher mit dem rosafarbenen Punsch auf halbem Weg zum Mund.
»Du hast ihn schließlich verlassen – das erfordert viel Mut. Du fühlst dich einsam wegen der Träume, die sich zerschlagen haben. Wegen der Liebe, an die du geglaubt hast, seine Liebe, bis zum bitteren Ende.«
»Woher weißt du das alles?«, flüsterte Marisa.
»Ich würde eine gute Wahrsagerin abgeben, was solche
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