Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
absuchte. Vermutlich tat Jude jetzt das Gleiche. Sie hatten das Walebeobachten im Blut; schon in Roses Alter hatten sie Tag für Tag und Jahr für Jahr ihren Spaß daran gehabt und gewettet, wer als Erster einen Wal entdecken würde. Connor hatte immer gewonnen.
Dieses Mal spürte Liam ihn, bevor er ihn sah. Vielleicht lag es an der geballten Aufmerksamkeit, die von Lily und Rose ausging – sie starrten auf die Wasseroberfläche, jeden Muskel angespannt, die Augen wachsam. Liam spürte ihre Energie – oder war es die urwüchsige Kraft des betagten Walweibchens, das wieder einmal auf rätselhafte Weise den Weg nach Hause gefunden hatte, südlich des gefrorenen Meeres, am nördlichsten Zipfel der Welt?
Was hatte sie während ihrer Reise erlebt? Welchen Haien war sie ausgewichen? Wie viele Eisschollen hatte sie beim Auftauchen mit ihren mächtigen Rückenwirbeln zersplittert, da die Atmung für sie genauso lebenswichtig war wie für Liam? Wie vielen Fischernetzen war sie entgangen? Sie war schon alt, und Liam wünschte sich inständig, ihren unbezähmbaren Lebenswillen und das Bedürfnis zu verstehen, immer wieder in diese Bucht zurückzukehren, in der sie geboren worden war. Sie war hier – er spürte es.
»Nanny!«, schrie Rose plötzlich.
Und sie war es, wirklich und wahrhaftig: Das Weißwal-Weibchen, der St.-Lawrence-Beluga. In der Sonne glänzend, durchbrach sie die Oberfläche, hob den Kopf, als wollte sie ihre Umgebung genauer in Augenschein nehmen. Vier Meter lang, schneeweiß, ohne Rückenfinne, aber mit einem mächtigen Rückenwirbel, der sich über die gesamte Länge des Rückens erstreckte. Ihre Wasserfontäne erreichte eine Höhe von etwa einem Meter – kaum sichtbar, verglichen mit anderen Walarten. Liam hörte, wie sie ein- oder zweimal Luft holte. Er hätte gerne gewusst, ob Lily und Rose es ebenfalls hörten; er wünschte sich, sie befänden sich bei ihm, in seinem Zodiac-Boot, und Rose könnte Nannys unbändige Lebenskraft spüren.
Dann spürte er Lilys Blick. Roses Augen waren immer noch auf den Wal gerichtet, und sie hatte beide Arme ausgestreckt, als wollte sie Nanny umarmen, sich an ihr festhalten und auf ihr reiten. Doch Lily sah ihn an. Ihre Augen waren groß und weit aufgerissen, erfüllt von einem ungläubigen Staunen, wenngleich gepaart mit einem verborgenen Schmerz, dessen Schrecken sie fortwährend begleitete. Es hat mit Rose zu tun, dachte er … mit der Liebe zu ihrer Tochter. Und den vielen Sorgen, mit denen sie leben musste.
»Alles wird gut«, sagte Liam laut, ihren Blick erwidernd.
Lily neigte den Kopf zur Seite. Natürlich konnte sie ihn nicht hören, bei dem Geräuschpegel des gedrosselten Motors und dem Lärm, den Roses aufgeregte Geburtstagsgäste erzeugten. Er sah, wie ihre Lippen das Wort »Was?« formten.
Der Wind blies ihm die Haare in die Augen, und er musste das Steuer loslassen, um sie zurückzustreichen. Er wollte den Blickkontakt zu Lily nicht verlieren. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Nanny noch einmal tief einatmete, bevor sie mit einem unverkennbaren Blasen abtauchte. Nach bis zu zehn Atemzügen an der Oberfläche würde sie ungefähr fünfzehn Minuten unter Wasser bleiben. Lily und Rose hatten sich umgedreht und verließen vorsichtig die Bugkanzel, um sich den anderen an Deck anzuschließen.
Liam hatte sein Ziel erreicht. Die Party konnte ohne ihn weitergehen. Als er Gas gab, um zum Kai zurückzukehren, hörte er laute Stimmen.
»Danke, Dr. Neill, dass du uns zu Nanny gebracht hast!«, rief Rose.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Rose!«, rief er zurück.
Lily schwieg, warf ihm abermals einen eindringlichen, fragenden Blick zu. Er wusste, dass ihre Fragen nichts mit ihm zu tun hatten, aber er hätte sie trotzdem gerne beantwortet. Er erwiderte ihren Blick, ein wortloser Austausch, bei dem bestimmte Tatsachen anklangen. Rose hatte nächste Woche eine große Operation vor sich. Und heute war ihr neunter Geburtstag. Lily, kämpferisch wie eine Bärenmutter, würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um ihre Tochter zu schützen und sie vor Schaden zu bewahren.
Sie war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie er – das wusste er. Er hatte sie zu Nanny geführt, weil es Roses innigster Wunsch war, und er hoffte, dass Nannys Kraft auf sie überging, Besitz von ihr ergriff und ihr Herz stärkte, damit sie noch viele Lebensjahre vor sich hatte. Er war Wissenschaftler – er hatte die McGill University besucht und ein Graduiertenstudium am
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