Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
die ihren Vater nie kennengelernt hatte, diese Erfahrung machen durfte.
Die Mädchen und Frauen eilten an Deck, und Lily warf Marisa einen raschen Blick zu. Lily hatte die Nanouks aus einem ganz persönlichen, verborgenen Bedürfnis heraus ins Leben gerufen, das sie auch bei Marisa entdeckte.
»Eine gelungene Party, Lil.« Anne gesellte sich zu Lily ans Fenster.
»Sie amüsiert sich prächtig.« Lily sah, wie Rose mit ihren Freundinnen lachte, während Jude alle auf Deck um sich scharte.
»Dass Nanny aufgetaucht ist, hat auch nicht gerade geschadet.«
»Direkt vor unserer Nase – wie war das überhaupt möglich? Kommt mir beinahe so vor, als hätten Jude und Liam die Köpfe zusammengesteckt und das Ganze geplant.«
»Jude doch nicht.«
»Dann eben Liam. Er arbeitet ständig an seinem Computer. Jedes Mal, wenn ich an seinem Büro vorbeigehe, blinkt und piepst es …«
»Er verbringt viel zu viel Zeit mit seinen Meerestieren. Und nicht genug mit Menschen.«
»Ich würde gerne Zeit mit ihm verbringen.« Marlena kam mit einem Glas Punsch zu ihnen herüber. »Wenn ich den Männern nicht ein für alle Mal abgeschworen hätte.«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt. Das meinst du doch nicht ernst! Nur weil dein Arthur ein Mistkerl war, solltest du nicht alle Männer über einen Kamm scheren.«
»Hey, ich weiß, dass du mit einem tollen Mann verheiratet bist, aber als meine Barbara fünfzehn war, hat sich ihr Vater aus dem Staub gemacht, bei einer neuen Familie Unterschlupf gefunden und uns abgeschrieben. Mag sein, dass ich nicht besonders viel von Männern verstehe, aber einen miesen Kerl erkenne ich auf den ersten Blick …«
Marisa stand ein wenig abseits, als überlegte sie noch, ob sie sich der Gesprächsrunde anschließen sollte. Lily zog sie lächelnd in den Kreis, da sie spürte, dass Marisa diesen Kontakt brauchte, ob es ihr nun bewusst war oder nicht.
»Sie vermisste ihren Vater sehr«, fuhr Marlena fort. »Sie war völlig aufgelöst, bekam Fieber und weinte sich jeden Abend die Augen aus. Ich las ihr Gute-Nacht-Geschichten vor, und immer, wenn ein Vater darin vorkam, war sie untröstlich. Sie träumte von ihrem Vater, wachte mitten in der Nacht weinend auf und konnte nicht mehr einschlafen. Ich musste sie ein paar Tage zu Hause lassen, konnte sie nicht zur Schule schicken, weil sie völlig erschöpft war.«
»Glaubt ihr, dass Kinder buchstäblich krank werden können, weil sie ihren Vater vermissen?«, fragte Cindy.
»Kommt auf die Kinder an«, meinte Jodie.
»Nein, kommt auf die Väter an«, entgegnete Marlena. »Wenn sie kein Interesse haben, am Leben ihrer Kinder teilzunehmen …«
Suzanne lächelte. »Es kann aber nicht sein, dass du deswegen immer noch verbittert bist, oder?«
»Ich gebe mir Mühe. Ich arbeite das Problem auf, wie es so schön heißt.«
»Lass ja nicht zu, dass es dich auffrisst, Schätzchen«, riet Doreen.
Lily hörte aufmerksam zu, vor allem um Marisas willen. Sie hatte vor vielen Jahren zahllose Stunden im Kampf mit ihren eigenen Dämonen verbracht. Die Nanouks hatten ihr geholfen, sie ein für alle Mal auszutreiben.
»Ihn sollte es auffressen!«, sagte Marlena. »Am besten in Form eines Riesenhais. Wenn Dr. Neill einen weißen Wal für Rosie aufspüren kann, ist er vielleicht auch in der Lage, einen netten großen weißen Hai für Arthur zu finden.«
»In Liams Gegenwart solltest du dir jeden Scherz über Haie verkneifen«, gab Anne ruhig zu bedenken. Lily drehte sich bei diesen Worten langsam um und spähte aus dem Fenster. Das Zodiac fuhr in einem weitläufigen Kreis um das Walbeobachtungsboot herum. Liam, groß und schlank, stand mit gebeugten Schultern am Ruder. Seine Haare waren dunkelbraun und an den Stellen, wo es sich wellte, von Silberfäden durchzogen.
Lily sah aus dem Fenster, hinüber zu Liam. Hinter ihm war ein weiteres Boot aufgetaucht. Sie kniff die Augen zusammen, um etwas erkennen zu können – es gehörte Gerard Lafarge. Irgendetwas missfiel ihr an seiner Art – vielleicht seine Eitelkeit, sein anmaßendes Gehabe. Gerard beobachtete Nanny mit dem Feldstecher, und der Anblick jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
»Um Gottes willen, erwähne das Wort Hai bloß nicht vor Liam – nach allem, was ihm und seinem Bruder widerfahren ist«, bekräftigte Lily.
»Jude sollte man tunlichst auch damit verschonen«, meinte Anne. »Mein Mann war damals mit dabei. Die beiden sind nie darüber hinweggekommen, und ich bezweifle, dass sich daran
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