Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Meeresbiologischen Institut in Woods Hole, Massachusetts, abgeschlossen. Aber als Spross einer Familie, die seit Generationen in dieser Bucht im hohen Norden ansässig war, kannte er auch die Kraft und die Magie, die von der Natur und von Phänomenen ausging, die sich dem menschlichen Verstand und Wahrnehmungsvermögen entzogen.
In dem Moment legte am Kai ein weiteres Boot ab – es war Gerard Lafarge, der sich – offenbar neugierig geworden – näherte. Liam gefror das Blut in den Adern. Er spürte, dass von diesem Mann Gefahr ausging; jemand, der fähig war, einen Delfin mit Langleinen zu fangen, hatte mit Sicherheit keine Skrupel, auch andere schutzlose Geschöpfe zu verletzen. Liam achtete darauf, mit seinem Zodiac eine Barriere zwischen Lafarges Boot und Nanny zu bilden, aber mehr noch zwischen Lafarge und Lily und Rose. Er sah, wie Lafarge den Feldstecher nahm und auf den weißen Wal richtete. Dann legte er ihn aus der Hand und blickte zu Lily hinüber – starrte sie lange Zeit an.
Liam wendete sein Boot, fuhr in einem großen Kreis um die Tecumseh II herum, ähnlich wie ein männlicher Fischadler prüfend sein Nest umkreiste, bevor er davonflog, um Fische zu fangen. Auf dem Bildschirm seines Laptop blinkte es allenthalben, da zahlreiche Meeressäuger nach der langen Wanderung in ihre heimischen Gewässer zurückkehrten, doch für den Augenblick schenkte er ihnen keine Beachtung, sondern zog mit seinem Boot langsame, weite Kreise, während sein Herz schneller und schneller schlug.
Kapitel 7
S ie waren von überall her gekommen, manche waren hundert Meilen weit gefahren, um gemeinsam Rose Malones neunten Geburtstag zu feiern: Mütter und Töchter, Schwestern, Tanten, Großmütter, alte und neue Freundinnen. Im Laufe der Jahre hatten sie sich an den merkwürdigsten Orten zusammengefunden – begonnen hatte alles im In Stitches, Lilys Handarbeitsladen im Hafen, wo der Club aus der Taufe gehoben worden war. Sie hatten sich im Gasthof getroffen, bei den Mitgliedern daheim, im Besucherraum des Krankenhauses und, an einem Sommerabend, in einem verwunschenen Garten. Doch es war das erste Mal, dass sich die Nanouks aus dem Frostigen Norden anlässlich einer Geburtstagsparty auf einem Boot einfanden.
Rose saß in der Mitte des Kreises, Jessica an ihrer Seite. Die anderen Mädchen umringten sie und sahen zu, wie sie ihre Geschenke auspackte, während sich die Frauen im Hintergrund hielten, das muntere Treiben beobachteten und sich angeregt unterhielten. Lily spürte ihren eigenen Herzschlag, stetig und langsam … Sie betrachtete ihre Tochter, die sie abgöttisch liebte, und dachte an jeden Geburtstag, den sie erleben durfte. Die Jahre waren in Windeseile vorübergegangen, schneller als ein Komet.
Es rührte Lily zutiefst, Rose von so viel Liebe umhüllt zu sehen. Jede einzelne der Anwesenden sorgte sich um sie und würde ihr die Daumen drücken, wenn sie nach Boston fuhren. Das Geräusch von Liams Schiffsmotor drang durch das offene Fenster, und Lilys Herz schlug schneller, aber sie nahm sich zusammen und konzentrierte sich auf die Mädchen und Frauen in der Kabine: die Nanouks. Lily musterte den Kreis, mit dem sie, bis auf Marisa, durch und durch vertraut war. Sie kannte die Vorlieben, Freuden, Probleme und Kümmernisse – oder beinahe alle Eigenheiten, die ihre Freundinnen zu den wunderbaren Frauen machten, die sie waren. Diese Feier strafte viele Dinge Lügen; das Leben ging weiter, wie immer, doch in Augenblicken wie diesen galt es, innezuhalten.
Rose öffnete ihre Geschenke – darunter waren Bücher, ein Malkasten mit Wasserfarben, Modellierton, ein silberner Armreifen, ein Portemonnaie, zwei CDs und ein Sweatshirt mit einem Belugawal auf der Vorderseite. Lily spürte, wie glücklich ihre Tochter war. Manchmal schien es, als steckten sie in einer Haut; lag es an Roses langjähriger Krankheit, oder fühlten sich alle Mütter ihren Töchtern so eng verbunden? Wie auch immer, Lily ging die Freude, die Rose ausstrahlte, durch und durch.
In dem Moment knisterte der Lautsprecher, und Judes Stimme erfüllte den Raum: »Geburtstagskind bitte kommen … du und deine Freundinnen werden an Deck gebraucht. Ein kleiner Vortrag über les baleines …«
»Das bedeutet ›Wale‹«, übersetzte Rose für Jessica.
Einige der Anwesenden waren Franko-Kanadierinnen, und Lily wusste, dass diese Worte an sie gerichtet waren. Ihr gefiel die ritterliche Art der Neill-Männer, und sie war dankbar, dass ihre Tochter,
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