Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
bewundernswert – aber, Annie … lebt sie in einer Traumwelt, was Rose angeht?«
»Jude, Lily sagte, dass Rose und sie inzwischen an viele Dinge gewöhnt sind, die anderen Menschen Angst machen. Herzpatient zu sein bedeutet vermutlich, nie sicher zu wissen, was einem blüht.«
»Wir sollten heute Abend für sie beten«, schlug Jude vor.
Anne lächelte. Sie wusste, dass er die beiden ohnehin jeden Abend in sein Gebet einschloss, genau wie sie. Ihr Seekapitän-Ehemann aus der Wildnis des maritimen Kanada hatte ein Herz, das so groß war wie der Golf von St. Lawrence.
»Für alle drei«, fuhr Jude fort.
»Drei?«
»Ja, wenn man Liam mitrechnet.«
Anne nickte. Wie konnte man Liam ausschließen? Es war eine unausgesprochene Tatsache, dass er ein fester Bestandteil von Lilys Leben war. Das wussten Jude und Anne wahrscheinlich besser als die beiden selbst. Und Rose dürfte es ebenfalls aufgefallen sein. Da waren zwei Menschen aufeinandergetroffen, die dermaßen auf der Hut waren, dass sie nicht zueinander fanden – ein frustrierendes Ergebnis.
»Glaubst du, dass aus den beiden jemals ein Paar wird?«, meinte Jude. »Oder ist der Gedanke so illusorisch wie die Frage, ob auf Cape Hawk jemals Palmen wachsen?«
»Früher hätte ich den Palmen eine größere Chance eingeräumt.«
»Früher?«
Anne zuckte nur die Schultern. »Man darf die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Worauf hoffst du denn, Liebste?« Jude streckte den Arm über den Tisch, auf dem unberührt das Essen stand, und legte seine Hand auf ihre.
»Dass meiner Freundin künftig ein wenig mehr Glück beschieden ist als in ihrem bisherigen Leben«, flüsterte sie. Als die Bedienung kam, um den Tisch abzuräumen, und fragte, ob das Essen denn nicht geschmeckt habe, brachte Anne kein Wort heraus.
Jude antwortete für sie beide; er sagte nein, alles sei bestens, sie wären nur noch satt von der Geburtstagsparty. Anne dachte an die unangetastete Geburtstagstorte und musste prompt nach der gestärkten Serviette greifen, um sich die Augen abzutupfen. Jude ergriff die Gelegenheit, abermals Liams Handynummer zu wählen, aber niemand antwortete.
Anne blickte ihren Mann über den Tisch hinweg an und fragte sich, was in Melbourne vorgehen mochte.
Zwei Tage vergingen ohne eine Nachricht. Am Abend saßen Marisa und Jessica auf der Veranda hinter dem Haus. Cape Hawk lag so weit im Norden, dass es hier in Neu-England noch Stunden nach dem Sonnenuntergang hell blieb. Die Spitzen der Kiefernnadeln sahen aus wie gemaltes Gold, und Grillen zirpten in den Wäldern. Sie saßen auf der obersten Treppenstufe, Seite an Seite. Jessica hatte kein einziges Mal gelächelt und kaum geredet, seit Rose mit dem Rettungshubschrauber abgeholt worden war.
Nach Roses Party war Marisas Widerstand erlahmt, und sie hatte beschlossen, sich selbst und ihrer Tochter gegenüber ehrlich zu sein und Jessicas echten Geburtstag zu feiern – nur sie beide. Was war schon dabei? Sie hatte – sie hatten beide – lange genug Vorsicht walten lassen. Als sie dann am Supermarkt angehalten hatten, hatte sie Jessica in die Buchhandlung nebenan geschickt, damit sie sich Lektüre für den Sommer aussuchte, und Marisa konnte heimlich einen Kuchen kaufen. Während Jessica die aufgehenden Sterne am dunkler werdenden Himmel betrachtete, eilte Marisa in die Küche.
Sie trat mit dem Kuchen, auf dem neun Kerzen brannten, ins Freie. »Zum Geburtstag viel Glück«, sang sie, und am Ende des Liedes lächelte Jessica beinahe.
»Mom, ich dachte, dass wir meinen echten Geburtstag dieses Jahr nicht feiern.«
»Ein bisschen schon, wenn auch verspätet, mein Schatz. Nur zu – blas deine Kerzen aus. Und vergiss nicht, dir dabei etwas zu wünschen!«
Jessica holte tief Luft und pustete. Alle neun Kerzen erloschen auf einen Schlag. Nach dem heutigen Tag war Marisa besonders dankbar für die Gesundheit ihrer Tochter und die kleinen Dinge im Leben wie Kerzen ausblasen. Sie schnitt zwei Stücke Kuchen ab, während ihr Jessica die Teller reichte.
»Weißt du, was ich mir gewünscht habe, Mom?«
»Was denn, Schatz?«
»Dass Rose bald wieder nach Hause darf.«
»Das ist ein guter Wunsch.« Noch während ihr die Worte über die Lippen kamen, stutzte Marisa. Was wäre ein schlechter Wunsch? Sie dachte an Ted, der alles nach seinen eigenen Wertmaßstäben zu beurteilen pflegte. Gute Wünsche, schlechte Wünsche.
»Kommt sie bald nach Hause?«
»Ich weiß es nicht. Wir können nur hoffen und beten.«
Jessica nickte,
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