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Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Titel: Wolken über dem Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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helfen, das Paul ihnen hinterlassen hatte. Er kannte Paul geschäftlich und vom Golfen, ein Umstand, den er genutzt hatte, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Die Freundschaft zu Paul hatte ihm den Weg in Marisas und Jessicas Leben geebnet.
    Das Problem war, dass Paul ihn nicht gekannt hatte. Nicht wirklich. Nicht wie sie. Das Leben teilte bisweilen Geschenke aus, die sich als trügerisch erwiesen. Ted hatte den Menschen, die Paul am meisten liebte, unermessliches Leid zugefügt. Sie schloss die Augen, lauschte der Eule und dachte an Mutter-Tochter-Beziehungen, an sich selbst und Jessica, Lily und Rose. Allmählich begann sie klarer zu sehen.

    Jessica ging in ihr Zimmer und blickte zu dem Kruzifix empor. Sie schlug das Kreuzzeichen. Dann ging sie zu der kleinen Marienstatue – ihrer Lieblingsstatue, denn sie besaß mehrere. Sie zeigte Maria in einem blauen, wallenden Gewand, mit einer Krone aus goldenen Sternen, barfuß auf einer Schlange stehend. Sie betrachtete die Schlange, die furchterregend wirkte. Das Maul war weit aufgerissen, mit gelben Fangzähnen und einem rosafarbenen Rachen. Doch Maria hatte sie getötet, sie mit ihrem bloßen Fuß zertreten. Jessica prüfte jedes Mal aufs Neue, ob die Schlange wirklich tot war. Dann drückte sie Maria einen Kuss auf das Gesicht.
    Anschließend nahm sie Der König von Narnia in die Hand. Es war ihr Lieblingsbuch. Sie mochte die Magie, die Geheimnisse, die Mächte des Bösen und vor allem die Mächte des Guten, die darin vorkamen. Vermutlich gefiel es Rose aus den gleichen Gründen, aber wie frischgebackene neunjährige Mädchen so sind, hatten sie nie darüber gesprochen.
    Als sie das Buch durchblätterte – es war eine gebundene Ausgabe, die sie vor zwei Jahren von ihrer Mutter zu Weihnachten bekommen hatte –, fand sie ein Bild von Aslan, dem freundlichen weisen Löwen. Jessica blickte mit klopfendem Herzen in seine traurigen, wissenden Augen. Sie berührte sein Bild und dachte an Rose, die Hilfe brauchte. »Daddy«, sagte sie.
    In dem Buch ließ Aslan zu, dass er angegriffen und getötet wurde, damit die Kinder und alle Bewohner von Narnia – der magischen, verborgenen Welt auf der anderen Seite der Kleiderschranktür – in Freiheit leben konnten. Als er sich schließlich vom Steintisch erhob, wieder zum Leben erwacht, hatte Jessica stets eine Gänsehaut und Tränen in den Augen – sie konnte es nicht fassen, dass jemand ein solches Opfer brachte, so tapfer und edel handelte.
    Vor Ted hatte sie an Tapferkeit und Edelmut geglaubt. Ihr leiblicher Vater war wie Aslan gewesen. Er war tot, und das Letzte, was er zu Jessica sagte, war: »Ich schaue vom Himmel auf euch herab, gebe auf dich und deine Mutter acht. Ich werde nie wirklich weg sein, mein Schatz, sondern stets über dich wachen. Rufe mich, wenn du mich brauchst.« Jessica hatte seine Hand gehalten, solange es ging, bis der Doktor und ihre Mutter sie weggezogen hatten. Anschließend hatte ihre Mutter noch Zeit mit ihm alleine verbracht, und dann war er gestorben.
    Ted war gleich darauf in ihr Leben getreten. Nun, fast ein Jahr danach, genauer gesagt – aber die Zeitspanne war ihr kurz vorgekommen. Der Geruch ihres Vaters haftete noch in seinem Kleiderschrank. Sie konnte sich in den dunklen Schrank stellen, den Kopf in seinen Anzügen vergraben, die Augen schließen und sich einbilden, er sei wieder da. Der Geruch nach Schweiß und Zigaretten, nach ihm, hüllte sie ein. Oft stand sie reglos da und erinnerte sich an seine Worte: Ich werde nie wirklich weg sein … Ich gebe auf dich und deine Mutter acht …
    Wenn Jessica seinen Duft einatmete, wusste sie, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Er war bei ihr, beschützte sie. Sie hatte die Schranktür angelehnt, um unentdeckt zu bleiben; diese Zeit wollte sie mit ihm alleine verbringen. Sie stand jeden Tag an einer anderen Stelle. Obwohl der Schrank schmal war, kam er ihr weitläufig vor, wie eine Welt für sich – ähnlich dem Kleiderschrank im Buch.
    Jessica pflegte in den Taschen ihres Vaters zu stöbern, wobei sie sich immer nur einen Anzug auf einmal vornahm. Als Geschäftsmann hatte er Wert darauf gelegt, stets wie aus dem Ei gepellt zu sein. Deshalb besaß er sieben Anzüge, fünf Sportmäntel und jede Menge bequeme Hosen. Seine Taschen kamen ihr wie Schatzkammern vor. Zuerst, als sie alle durchgeschaut hatte, erschienen ihr die Dinge, die sie darin fand, aufregend und magisch. Ein paar Münzen, eine Visitenkarte, seine angelaufene, silberne

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