Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
und gemeinsam machten sie sich über den Kuchen her. Es versetzte Marisa einen Stich, als ihr plötzlich einfiel, dass ihre Mutter die Geburtstagstorte für sie immer selbst gebacken hatte. Mit pinkfarbenen Rosetten aus Buttercreme und ihrem Namen, verziert mit pinkfarbenen Buchstaben, aufgebracht mit einer eigens angefertigten Spritztüte. Was entging Jessica, die ohne ihre Familie und Verwandten aufwuchs sonst noch alles?
Roses Party hatte ihr genau dieses Gefühl vermittelt, eingebunden zu sein in eine große Familie – Lily, Rose und die fremden Frauen, die ihr am Ende des Tages wie Schwestern erschienen waren. Als sie auf Deck standen und Rose in den Rettungshubschrauber verfrachtet wurde, hatte eine der Frauen ihre Hand ergriffen, während alle dastanden und stumm Roses Abflug verfolgten. Sie hatten sich alle an den Händen gehalten, mit Marisa und Doreen auf der einen, und Jessica und Allie auf der anderen Seite.
Seit diesem Moment fühlte sie sich von neuer Energie erfüllt, die sie dazu bewogen hatte, ihrer Tochter den Geburtstagskuchen zu kaufen. Sie drückte Jessicas Schultern und küsste sie auf den Scheitel.
»Es ist teuer, wenn man ins Krankenhaus muss, oder?«, fragte Jessica.
»Ja.« Vor allem, wenn man auf der Flucht ist und keine Krankenversicherung hat, dachte sie. Bestimmt erinnerte sich Jessica daran, wie sie hingefallen war und genäht werden musste, kurz nachdem sie Weston verlassen hatten. Marisa hatte keine andere Wahl gehabt, als die Behandlung bar zu bezahlen – über die Leistungen der Krankenversicherung ließ sich der Aufenthaltsort verschwundener Personen leicht ermitteln.
»Herzoperationen sind viel teurer als Platzwunden nähen, stimmt’s?«
»Sehr viel teurer.«
Jessica nickte. Sie aß ihren Kuchen, während die Sonne unterging und dem Wald eine purpurne Färbung verlieh, durchbrochen von Schatten, die der aufgehende Mond warf. Der Ruf eines Nachtvogels drang von den Bäumen herüber, lange kehlige Laut, die der Jagd vorausgingen.
»Mom«, sagte Jessica mit vollem Mund. Sie kaute, schluckte den Bissen herunter und wischte sich den Mund ab. »Ich möchte etwas für Rose tun.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie Besuch haben darf.« Marisa erinnerte sich an die Kinder-Intensivstation in der Johns-Hopkins-Klinik, wo sie im Rotationsverfahren gearbeitet und viele kranke Kinder zu Gesicht bekommen hatte; vermutlich würde man Jessica nicht zu ihrer Freundin lassen. »Wie wäre es, wenn du ihr eine Genesungskarte bastelst? Ihre Mutter würde sie ihr bestimmt geben.«
»Ich möchte mehr für sie tun.«
»Was denn?«
»Ich möchte Geld für sie sammeln. Damit sie operiert werden kann und ihre Mutter sich nicht so große Sorgen machen oder so viel arbeiten muss. Rose sagt, dass sie andauernd arbeitet.«
»Ach, Jess!«
»Ich möchte, dass die Klinik sie gesund macht. Damit alles gut wird! Mom – warum hat Rose ein krankes Herz? Warum ist sie so blau angelaufen?« Jessica begann zu schluchzen. »Ich will nicht, dass sie stirbt!«
Marisa zog sie auf ihren Schoß, wiegte sie, versuchte, sie zu beschwichtigen. Jessica ließ ihren Tränen freien Lauf, machte ihrem Kummer Luft – wie beim Tod ihres Vaters und als ihr kleiner Hund starb. Marisas eigene Augen füllten sich mit Tränen. Sie dachte an die kranken Kinder, die sie als Krankenschwester betreut hatte, an die Qualen, die sie beim Anblick ihres Leidens empfand. Sie hatte versucht, sich gefühlsmäßig davon zu distanzieren – wie sie es während der Ausbildung gelernt hatte, aber das war ihr nicht ohne die Hilfe von unterstützenden Gruppen und Freunden gelungen. Es war die größte Herausforderung ihres Lebens gewesen, und nun sah sie sich wieder mit der gleichen Situation konfrontiert, drohte daran zu scheitern.
Während sie Jessica in den Armen hielt, wünschte sie sich, sie könnte den Kummer ihrer Tochter lindern, die den Verlust ihres Vaters, Roses Krankheit und den Tod ihres kleinen Hundes verkraften musste, den Ted vor ihren Augen umgebracht hatte. Marisa wusste, dass sie alles darum geben würde, um ihre Tochter vor den schlimmen Erfahrungen des Lebens zu beschützen. Sie dachte daran, wie sie ihre in eine rosafarbene Decke gehüllte Tochter vor neun Jahren in der Säuglingsstation in den Armen gehalten hatte. Sie war so klein gewesen, die Decke so weich. In ihre Erinnerungen an diesen Augenblick mischten sich aber auch kämpferische Gefühle – sie liebte ihr Kind so sehr, dass sie alles getan hätte, um
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