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Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Titel: Wolken über dem Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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es vor Unheil zu bewahren.
    Einmal hatte sie sich gefragt, ob sie jemals imstande wäre, für einen geliebten Menschen zu sterben. Ob sie in ein eiskaltes Gewässer springen würde, um diesen Menschen vor dem Ertrinken zu retten, oder einem wilden Tier entgegentreten würde, auch wenn es ihr eigenes Leben kostete. Als sie ihr Baby in den Armen gehalten hatte, waren alle Zweifel wie weggeblasen. Während sie nun auf den Verandastufen saß, dachte sie an die Liebe, die sie beim Anblick ihrer neugeborenen Tochter überflutet hatte, an das Gelöbnis, sie vor jedem Ungemach und jedem Menschen zu beschützen, der es wagte, ihr ein Leid zuzufügen.
    Doch jetzt konnte sie Jessica nicht davor bewahren, hilflos mit ansehen zu müssen, wie ihre Freundin litt.
    »Mom?« Jessica trocknete ihre Augen. »Muss Rose sterben?«
    »Ihre Mutter tut alles, was in ihrer Macht steht, um das zu verhindern. Sie befindet sich in den besten Händen.«
    »Woher weißt du das?«
    Marisa schüttelte den Kopf. Sie blickte in die braunen Augen ihrer Tochter, strich ihr behutsam die Haare aus der hohen Stirn und dachte an Jessicas Vater. Sein Tod hatte sie beide hart getroffen, und sie konnte den Gedanken kaum ertragen, dass sich Jessica nun dem gleichen Kummer um Rose gegenübersah. »Wissen kann das niemand.«
    »Es passieren so viele schlimme Dinge«, flüsterte Jessica. »Wie damals, als Ted Tally mit einem Fußtritt die Treppe hinuntergeworfen hat, nur weil sie bellte.«
    »Aber es passieren auch gute Dinge. Ich möchte, dass du an sie denkst.«
    »Ich muss Rose helfen.« Jessica sprang auf, als könnte sie es nicht ertragen, auch nur eine weitere Minute zu verschwenden.
    »Schatz – wir können für sie beten. Genesungskarten basteln …«
    Jessica schüttelte den Kopf. »Das ist nicht genug. Ich werde Spenden für die Operation sammeln. Ich will nicht, dass sie stirbt, wie Daddy oder Tally. Ich fange sofort damit an.« Sie war außerstande gewesen, ihren kleinen Hund zu retten, aber ihre Freundin würde sie nicht im Stich lassen.
    Marisa nickte. Die Fliegengittertür fiel hinter Jessica zu, und sie blieb allein auf der Veranda zurück. Ihre Gedanken überschlugen sich. Vielleicht lag es daran, dass sie den Geburtstag ihrer Tochter, ein großes Ereignis, hier in ihrem Schlupfwinkel feiern mussten, oder an dem Schock, mit ansehen zu müssen, wie Rose ins Krankenhaus gebracht wurde. Ihre Arbeit auf den psychiatrischen Stationen, denen sie zeitweise zugeteilt worden war, hatte gezeigt, dass alte Traumata immer wieder durch die seltsamsten Situationen ausgelöst werden konnten. Nach dem Zusammenleben mit Ted wusste sie, wie leicht sie in einen Zustand der Betäubung verfiel, sich innerlich abschottete, sich nur noch die Decke über den Kopf ziehen wollte. Das waren eingefahrene Verhaltensmuster.
    Doch nun begann sich etwas Neues abzuzeichnen. Sie spürte die Energie durch ihren Körper fließen, unter ihrer Haut. Sie dachte an Paul, Jessicas Vater, und schauderte, fühlte sich lebendig in der kühlen Meeresluft. Der Vogel rief abermals in den Wäldern, kündigte sich der Nacht an. Plötzlich breitete er die weiten Schwingen aus, erhob sich lautlos in die Lüfte, glitt hoch über der Erde dahin. Sie hörte die Flügelschläge und sah die gelben Augen: Es war eine Eule.
    Die ganzen Monate hindurch, seit April, als sie mit Jessica geflohen war, hatte sie sich wie eine gejagte Kreatur gefühlt. Ein neuer Name, ein neues Zuhause, ein neues Land. Sie hatte ihre Tochter eingepackt und allem entrissen, was ihnen früher einmal wichtig gewesen war. In wie vielen schlaflosen Nächten hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie Jessica so etwas angetan hatte? Jeden Abend, wenn sie ihr Kopfkissen umarmte, hatte sie gebetet, Paul möge ihr verzeihen.
    Heute Abend war ihr, als hätte er ihr endlich vergeben. Marisa spürte, wie ihre Kraft zurückkehrte. Die Hände der Nanouks zu halten, ihre Liebe zu Lily zu spüren und zu wissen, dass Lily verstand, was Jessica und sie durchmachten – all das hatte eine grundlegende Veränderung bei ihr bewirkt.
    Beim Anblick der Eule mit ihren feurigen goldenen Augen und den tödlichen Fängen empfand sie keine Angst, sondern fühlte sich vielmehr wie elektrisiert und innerlich gestärkt; sie dachte daran, dass Jessica und sie von einem Mann verfolgt wurden, den sie immer noch, wider besseres Wissen, zu verstehen suchte. Ted hatte sich in ihr Leben geschlichen, unter dem Vorwand, ihr bei der Anlage des Geldes zu

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