Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
gleich nach der Einlieferung. Er ist über alles im Bilde, doch er arbeitet inzwischen in Baltimore. Er hat aber einen Chirurgen in Boston, den er empfehlen kann, und er bittet Sie, ihn anzurufen, sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind.«
»Was haben Sie bisher festgestellt?«
»Sie hat eine Stauungsinsuffizienz und ein Lungenödem mit beträchtlicher Schwellung. Wir haben ihr Captopril und Lasix verabreicht. Ich würde gerne anhand eines Herzkatheters überprüfen, wie gut die Herzfunktion ist.«
Lily nickte – war wie betäubt, im Schock, reagierte rein mechanisch. Wann hatte sie sich an die Hiobsbotschaft gewöhnt, dass Roses Herz unzureichend funktionierte? Die Nachricht traf sie nicht mehr mit solcher Wucht wie früher. Die Ziellinie war in Sicht – die Notoperation in Boston, wo man den Flicken ersetzen und die Defekte beheben konnte, so dass ihr Herz beinahe so gut wie neu sein würde. Wenn es den Ärzten in der Melbourne Klinik gelang, sie zu stabilisieren – und damit war zu rechnen –, konnten sich Lily und Rose an den Zeitplan halten, und die nächste Operation würde die letzte sein.
»Wann wurde der Blaylock-Taussig-Shunt eingesetzt?«, fragte Dr. Cyr.
»Vor zehn Monaten.«
»In Boston«, ergänzte Dr. Colvin.
Lily nickte, wandte sich ab, wollte zurück zu Rose.
»Sie ist eine Kämpferin«, sagte Dr. Cyr.
Lilys Lippen pressten sich bei diesen Worten zusammen, doch sie schwor sich, nicht zu explodieren. Sie kam sich vor wie ein Geysir, dessen innerer Druck unaufhörlich stieg – sie musste einen Weg finden, damit er sich entladen konnte. Informationen über medizinische Verfahren hatten bisweilen diese Wirkung auf sie, als ob sich jede Zelle ihres Körpers daran erinnerte, wie Rose ihr zum ersten Mal einen Abschiedskuss gegeben hatte und in den Operationssaal geschoben wurde. Damals glaubte sie sterben zu müssen, und das war noch heute so, wenn sie daran dachte – oder sich die Herausforderungen vergegenwärtigte, die sie bewältigt hatten und noch bewältigen mussten.
Die Ärzte gaben ihr ein Formular, das sie unterschreiben musste, was sie mit einem so unleserlichen Gekritzel tat, das ihnen zur Ehre gereicht hätte. Bring es rasch hinter dich, und dann nichts wie zurück zu Rose …
»Ist das alles?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte Dr. Colvin.
»Ich möchte Sie bitten, das Morphium abzusetzen«, sagte Lily.
»Sie war bei ihrer Einlieferung ziemlich aufgewühlt. Wir müssen dafür sorgen, dass sie ruhig bleibt«, meinte Dr. Colvin.
»Von Morphium wird ihr übel. Und der Dämmerzustand würde ihr nicht gefallen.«
»Trotzdem, wir sollten jede Aufregung von ihr fernhalten.«
»Ich bin jetzt bei ihr. Ich denke, das reicht zur Beruhigung.«
Die Ärzte nickten, und Dr. Cyr zuckte die Achseln. Offenbar leuchtete ihnen das Argument nicht ein.
Lily war es egal, ob sie es verstanden oder nicht. Hauptsache, Rose und sie wussten, worum es ging.
Kapitel 12
D ie Party auf Cape Hawk hatte ein abruptes Ende gefunden. Die Nanouks waren nach dem Beladen ihrer Autos nach Hause gefahren, um das Abendessen für ihre Familien zuzubereiten, und tauschten nun am Telefon oder im Internet Informationen aus. Pläne wurde geschmiedet, um Care-Pakete für Lily und Rose zusammenzustellen – mit Stickgarn, Gitterleinen, Büchern, CDs, DVDs und Fotos von der Geburtstagsparty, vor allem von den zahlreichen Schnappschüssen von Rose und Nanny, die im Hintergrund ihre Kapriolen machte.
Anne Neill hatte wie versprochen Roses Geburtstagstorte in der Tiefkühltruhe des Gasthofs verstaut. Jude und sie saßen gemeinsam beim Abendessen im Speisesaal, inmitten der Hotelgäste, stocherten wortkarg und lustlos in ihrem Essen herum. Jude schien seit dem Vormittag um zehn Jahre gealtert zu sein.
»Wer hätte denn mit so etwas gerechnet, als Liam mich bat, den Skipper zu machen! Annie, hast du schon mal gesehen, dass Rose so schlecht aussah? So blau angelaufen?«
»Nein, mein Lieber. Wirklich nicht.«
»Was sagt Lily?«
»Ich hab noch nicht mit ihr gesprochen. Hat Liam sich gemeldet?«
»Nein, und sein Handy ist ausgeschaltet. Was hat Lily vor der Party gesagt?«
»Nun, ich wusste, dass Rosie in letzter Zeit Probleme hatte. Aber das war nichts Außergewöhnliches angesichts ihres Zustands, und außerdem sollten sie in Boston durch die Operation ein für alle Mal behoben werden.«
»Steht es schlimmer um sie, als Lily es wahrhaben will? Du weißt, ihre positive Einstellung ist
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