Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Roses Hand loszulassen. Genauer gesagt, brachte sie es nicht übers Herz. »Das ist nicht nötig«, erwiderte sie, beinahe flüsternd. »Rose ist ihr eigener Herr und sehr reif für ihr Alter. Sie weiß, was los ist. Sie können es mir auch hier sagen.«
Bonnie schien nicht wirklich überrascht. Die Mütter der kleinen Herzpatienten waren hart im Nehmen – aber nicht halb so strapazierfähig wie die Patienten selbst. Dennoch wandte sie sich ab, genau wie Lily, die beharrlich noch Roses Hand hielt.
»In Ihrem Krankenblatt war der Vermerk, dass sie nächste Woche in Boston für eine VSD-Operation vorgesehen ist.«
»Ja, der OP-Termin ist nächste Woche. Das alte Patch wird brüchig.«
»Genau. Wir haben natürlich gleich nach ihrer Ankunft die entsprechenden Untersuchungen durchgeführt. Das Herz ist vergrößert und die Lunge steht unter Druck, deshalb läuft sie blau an. Sie war in der Lage, uns zu erzählen, dass sie in letzter Zeit mehrere hypoxämische Anfälle hatte, und das ist der Grund dafür.«
In diesem Moment gesellten sich zwei Ärzte zu ihnen und begrüßten sie – Paul Colvin, den Lily kannte, und Johnny Cyr, den sie nie zuvor gesehen hatte. Sie erklärten, dass sie gerade Visite machten, und baten Lily, so lange hinter den Vorhang zu gehen.
»Ich würde lieber hierbleiben«, entgegnete sie.
»Das kann ich gut verstehen«, erwiderte Paul Colvin, der ältere von beiden, ein Herzspezialist, der in der Klinik eine kardiologische Abteilung mit einem guten Ruf aufgebaut hatte. »Aber wir müssen Sie trotzdem bitten, etwas Platz zu machen. Nur für ein paar Minuten.« Mit seinen silbernen Haaren und dem unbeugsamen Blick hätte er eine andere Mutter womöglich eingeschüchtert. Lily schüttelte nur den Kopf, unfähig, Roses Hand loszulassen.
»Bitte, Doktor.« Sie hatte keine Lust zu streiten, und es blieb ihr erspart. Er kannte Lily und wusste, mit wem er es zu tun hatte, deshalb fügte er sich lieber ihrem Willen.
Die Ärzte hörten Rose mit dem Stethoskop ab, warfen einen prüfenden Blick auf die Werte, die von den Geräten angezeigt wurden, und überflogen das Krankenblatt. Lily war froh, dass sich die Visite auf zwei Ärzte beschränkte und Melbourne kein Lehrkrankenhaus war. Sie erinnerte sich daran, wie sie in der Bostoner Klinik auf Entscheidungen bezüglich eines chirurgischen Eingriffs gewartet hatte; damals war Rose gerade zehn Monate alt gewesen. Ständig tauchten Medizinstudenten auf, um Rose zu untersuchen – fuhrwerkten an ihr herum, hörten ihr Herz ab, umringten sie in ihrer grünen OP-Kleidung – bis Rose schließlich in Tränen ausbrach. Was wiederum einen hypoxämischen Anfall auslöste.
Lily hatte kurzen Prozess gemacht – obwohl sie damals noch keinerlei Erfahrung mit den Gepflogenheiten einer Klinik besaß –, beschwerte sich bei dem behandelnden Kardiologen und unterband die Visiten der Studenten. Sie hatte sich wie eine Bärenmutter aufgeführt, die ihr Junges verteidigte, ein Bedürfnis, das im Lauf der Jahre zunehmend stärker geworden war.
Sie sah, dass ihre Tochter aufwachte und die beiden Ärzte, die sich an ihr zu schaffen machten, verständnislos anstarrte. Als sie Roses hilfesuchenden Blick auffing, drückte sie beruhigend ihre Hand. Rose erwiderte den Druck.
Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Es waren einfache Dinge, die für sie zählten. Das Wissen, dass sie stets füreinander da waren, einander an der Hand hielten, sich zulächelten; dass Rose, wenn sie das Bewusstsein verlor, beim Aufwachen als Erstes das Gesicht ihrer Mutter sah und Lily ihr das Haar aus der Stirn strich. Bald war Schlafenszeit, und Lily hatte vor, die Nacht in einem Sessel neben Roses Bett zu verbringen.
Als die Ärzte fertig waren, kehrte Bonnie zurück. Sie hielt ein Tablett mit Medikamenten in der Hand. Lily war es lieber, Rose kurz mit der Schwester als mit den beiden Ärzten allein zu lassen. Während Bonnie die Medikamente dosierte, begleitete Lily Dr. Colvin und Dr. Cyr zum Schreibtisch.
»Die hypoxämischen Anfälle häufen sich«, sagte Dr. Colvin mit Blick auf das Patientenblatt. »Der letzte war heute, wie Ihre Tochter sagte.«
»Richtig. Das war ja der Hauptgrund für die Operation, die in Boston anberaumt ist. Um den Flicken für ihren VSD – den Ventrikelseptumdefekt – auszutauschen, der eingesetzt wurde, als sie zehn Monate alt war. Haben Sie sich mit dem Chirurgen in Verbindung gesetzt, der den Eingriff durchführen wird? Dr. Kennedy?«
»Ja,
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