Wolkengaenger
so auch dieses. Nach meiner Ankunft in Amerika hielt meine Mutter jahrelang ein Ehepaar in
Großbritannien, Sarah und Alan, über meine Fortschritte auf dem Laufenden. Ich kannte die beiden aus meiner Moskauer Zeit
im Babyhaus 10. 1 Wir schickten ihnen Fotos: ich neben Mickey Mouse bei meinem ersten Besuch in Disney World; die Party, die wir feierten, nachdem ich die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte – ich trug einen Zylinder
mit dem Sternenbanner, auf dessen Rückseite Mom »All American John« geschrieben hatte; ich im Smoking verkleidet als James
Bond, meinem Idol; und später ich in meiner Pfadfinderuniform.
2006 schickte Mom Sarah und Alan etwas anderes: einen Artikel aus unserer Lokalzeitung. Ein Journalist hatte uns befragt,
wie wir uns gefunden hätten, wie unser heutiges Zusammenleben aussehe und wie meine frühe Kindheit in Russland |10| gewesen sei. Alan schrieb uns daraufhin eine E-Mail, dass er aus dem Artikel schließe, ich wüsste nur wenig über meine außergewöhnliche
Geschichte. Im darauffolgenden Jahr besuchten uns Sarah und Alan, und wir tauschten Erinnerungen über unsere gemeinsame Zeit
in Moskau aus, als Alan, begleitet von seiner Frau Sarah, dort als Zeitungskorrespondent arbeitete, während ich mich noch
in der Obhut des Staates befand. Ich hatte so viele Fragen: Was war mit meinen leiblichen Eltern geschehen? Wie war ich ins
Babyhaus 10 gekommen, und warum wurde ich mit sechs Jahren von dort in eine Irrenanstalt für Erwachsene verlegt? Warum hat
es so lange gedauert, mich zu retten?
Je mehr ich hörte, desto mehr wollte ich erfahren. Ich wollte wissen, warum russische Ärzte keinen Unterschied zwischen körperlicher
und geistiger Behinderung machten, und wie sie Kinder mit leichter körperlicher Behinderung dazu verurteilen konnten, die
Hölle auf Erden zu erleiden. Irgendwann im Laufe unserer Gespräche sagte Alan, dass man aus meiner Geschichte ein Buch machen
müsste. Ich war Feuer und Flamme. Du musst es schreiben, sagte ich zu ihm. Und auch Sarah, Wika und all die anderen sollten
ihren Teil zu meiner Geschichte beitragen. Die Welt sollte es erfahren.
Seit ich in Amerika lebe, habe ich viel über Russland gelernt. Vor kurzem habe ich in Geschichte ein Referat gehalten über
den Sturz des Zaren und die kommunistische Machtübernahme von Lenin und später Stalin. Dadurch habe ich Einblicke in jenes
System gewonnen, das versucht hat, mein Leben zu zerstören.
Die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, beginnt, als ich vier Jahre alt war. Wie bei jedem Menschen sind auch meine
Erinnerungen an meine frühe Kindheit recht bruchstückhaft. Ich war eingesperrt und wusste daher nicht, dass es da draußen
Menschen gab, die sich unermüdlich darum bemühten, mich zu retten. Bis schließlich meine Mutter meinem Hilferuf folgte.
Zur Recherche ist Alan zurück nach Moskau geflogen, um |11| den Großteil der Leute zu befragen, die damals mit mir in Berührung gekommen waren, und um Material in Form von Tagebüchern,
Fotos, Videos und behördlichen Dokumenten zu sammeln. Was meine eigenen Erinnerungen betrifft, nehmen diese ab dem sechsten
Lebensjahr zu, und ich erzählte Alan alles, was ich wusste.
Der Blick auf meine Erlebnisse in jenen Räumen, in denen ich eingesperrt war, erfolgt durch meine Augen. Die übrige Geschichte
wird von zwei Menschen erzählt, die mir sehr viel bedeuten: Wika, eine junge Russin, die es sich über Monate zur Aufgabe gemacht
hatte, mich zu retten, und Sarah, der ich keine Ruhe ließ, bis sie für mich ein Leben außerhalb dieses mörderischen Systems
gefunden hatte.
John Lahutsky
Bethlehem, Pennsylvania, im September 2008
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Wanja (oben rechts) mit seinem Freund Andrej im Babyhaus 10 und mit Wika in Filimonki (unten) , 1996 (© oben: Sarah Philps, unten Alan Philps)
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In Babyhäusern (russisch: Dom rebjonka) leben Kinder, häufig mit geistigen und/oder körperlichen Behinderungen, von 0 bis
etwa 4 Jahren, die entweder Waisen sind oder deren Eltern sich nicht in der Lage fühlen, sie selbst zu erziehen. Da es für
eine solche Institution keine englische Entsprechung gibt, fand der Autor den Begriff Baby House, dem die deutsche Übersetzung
aus dem gleichen Grund folgt.
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|13| 1.
DIE ANGELEHNTE TÜR
November/Dezember 1994
»Kann ich bitte ein Spielzeug haben?«
Unbeantwortet schwebte Wanjas Bitte im Raum. Das Zimmer war voller Kinder, doch außer Nastja, der
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