Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
nur selten am morgendlichen Plausch neben der friedlich glucksenden Kaffeemaschine. Anscheinend hinderte ihn sein von jugendlichen Hormonstürmen versehrtes Gesicht daran, aus sich herauszugehen und unbefangen aus seinem Privatleben zu berichten, von dem wir nur wussten, dass er unverheiratet war und seit zwanzig Jahren unter dem Dach eines Mehrfamilienhauses in Frohnau wohnte. Nach fünfzehn gemeinsamen Arbeitsjahren wäre eine plötzliche Offenheit unter Umständen sogar peinlich geworden. Vielleicht wäre herausgekommen, dass er in seiner Freizeit Modell-Guillotinen bastelte und am Wochenende gerne Swingerclubs aufsuchte. So ließen wir Uwe mit seiner schlechten Laune vorsichtshalber allein.
Wir, das waren Lydia, Marianne und ich. Lydia, die Jüngste von uns – sie trug Augengläser so dick wie mein Zeigefinger – , war die Sekretärin der Pressesprecherin Frau von Arnim und versorgte uns täglich mit aktuellen Informationen über ihr Liebesleben. Das heißt: über ihr zu erwartendes Liebesleben, denn ihre Angebeteten, deren Namen im Monatstakt wechselten, konnten sich zu einer finalen Zusage leider nie durchringen. Mit der Zeit entwickelte sich daraus eine Fortsetzungsgeschichte, die wir jeden Morgen mit allergrößter Neugierde erwarteten. Marianne hingegen, gezeichnet von heftigen Fressschüben – Busen und Bauch waren längst untrennbar ineinander übergegangen, ihr Keksvorrat hätte uns für Wochen ein autarkes Leben in der Pressestelle ermöglicht – , war seit fast dreißig Jahren glücklich verheiratet und gehörte neben der unverwüstlichen Efeutute, die krautartig gegen die Decke wuchs, zum festen Büroinventar. Gleichgültig welcher Tag, Marianne strahlte eine Zuversicht aus, als hätte sie noch mindestens zweihundert Jahre zu leben. Ob es an ihrem Körperumfang lag, in dem die Zuversicht einfach mehr Platz hatte, kann ich bis heute nicht abschließend beurteilen. Denn während ich »zulegte«, ohne dabei im gleichen Maße an Zuversicht zu gewinnen, musste ich einsehen, dass Kekse allein für ein ausgefülltes Leben eben nicht genügten. Allerdings reichte mir meine persönliche kleine Zuversicht vollkommen aus. Ich hatte keinen Ehrgeiz, irgendetwas zu erreichen. Ich wusste nicht einmal, was ich hätte erreichen wollen. Das Leben lief durch mich hindurch, als wollte es mich möglichst schnell hinter sich lassen. Kaum war ich geboren, musste ich auch schon in die Schule. Ich war praktisch erwachsen, seit ich keine Windeln mehr trug. Solange ich denken konnte, hatte ich nie meine Grenzen ausgetestet und über die Stränge geschlagen. Ich gehörte ohnehin nicht zu den Menschen, die gerne Grenzen überschritten. Ich überschritt eigentlich fast nichts, nicht mal eine Straße bei Rot. Ich hielt mich lieber an die Warnungen der Erwachsenen, weil ich viel zu faul war, eigene Erfahrungen zu machen. Vielleicht war das der Grund für mein andauerndes Gefühl, etwas verpasst zu haben, obwohl ich nicht sagen kann, was ich genau verpasst hatte.
Nach dem morgendlichen Kaffeeklatsch ging jeder an seinen Arbeitsplatz. In meiner Ecke am Fenster hatte ich es mir gemütlich gemacht. Sitzkissen, einige persönliche Gegenstände wie den Holzelefanten, den mir meine Tante zum Abitur geschenkt hatte, ein Foto meiner Eltern an ihrem dreißigsten Hochzeitstag und eine Vase, in die ich alle drei Tage frische Blumen steckte. Die Angewohnheit, es mir hübsch zu machen, wo immer ich mich länger als eine halbe Stunde aufhielt, löste bereits während meiner Schulzeit hämische Reaktionen aus. Von »Bernadette« bis »Schwuchtel« reichten die Kommentare, und bis heute habe ich nicht verstanden, wieso nur dem weiblichen Geschlecht eine Verschönerung seines Lebensumfeldes zugestanden wurde. Selbst Uwe hob regelmäßig seine Augenbrauen, wenn ich mit einem Strauß frischer Blumen erschien. Ich ignorierte ihn und dekorierte die Blumen in die Vase.
Auch deshalb fühlte ich mich zu Frauen mehr hingezogen als zu Männern. Ich habe mich mit Frauen immer sofort verstanden. Während die Männer zusammenstanden und über Geschäfte redeten oder die neuesten Entwicklungen auf dem Elektronikmarkt, saß ich bei den Frauen und erfreute mich am Austausch von Kochrezepten. Missverständnisse gab es nur dann, wenn ich fest mit einer Frau liiert war. Meine erste Freundin zeigte sich stark beunruhigt, als sie merkte, dass ich morgens mehr Zeit im Bad verbrachte als sie. »Mit Rasieren ist es eben nicht getan«, antwortete ich beleidigt auf
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