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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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heiratete, würde er damit sogar Inzest begehen. Doch Mohonk der Ältere blieb ungerührt. Zweimal im ersten Daseinsmonat von Klein Jeremy schlug er seiner Frau einen halbfertigen Schneeschuh auf den Kopf, und nach einem besonders vehementen Disput jagte er sie einmal sogar über den Futterplatz von Jamestown, in der Hand ein Pflanzholz, dessen scharfe Spitze es zu einem tödlichen Speer machte.
    Dieser Streit gipfelte in einer informellen Messerstecherei zwischen Mohonk père und seinem Schwager Horace Tantaquidgeon. Die beiden schuppten am Ufer des Conewangos Fische ab – Gelbbarsche, Zander, Muskellungen. Ihre Messer blitzten in der Sonne. Mohonk fils, der kaum den Kopf geradehalten konnte, saß festgeschnallt auf dem Rücken seiner Mutter und starrte hinauf ins tanzende Grün der Bäume und in den gleichmütigen, unbewegten Himmel, der sich überall rings um ihn erstreckte, ozeanisch und blau. Die Hände der Männer trieften vor Blut, vor Schleim. Durchscheinende Schuppen klebten an ihren Unterarmen. Kein Geräusch war zu hören außer dem Schaben der Messer und dem wilden Gebrumm der Fliegen. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, stand Horace Tantaquidgeon auf und stieß dem vorletzten Kitchawanken das Messer in den Rücken. Zitternd blieb es stecken, das Heft ragte wie ein langer Splitter zwischen den Graten zweier Lumbalwirbel hervor.
    Einen Moment lang geschah gar nichts. Mit nacktem Oberkörper und fleckigen Arbeitshosen kauerte Mohonk der Ältere weiterhin unverändert über seinem Fischhaufen. Und dann gefror auf einmal sein Blick, als er begriff, er fiel auf den Hintern, saß aufrecht zwischen den zerhackten, glotzenden Fischen, die unter ihm hervorglitschten, als wären sie zu neuem Leben erwacht ... aber er blieb nicht einfach so sitzen, er sank langsam nach hinten; seine Beine, sein Bauch, seine Eingeweide waren plötzlich taub geworden, sie schwebten ihm davon wie abgeschnittene, mit Helium gefüllte Luftballons.
    Die Tantaquidgeons waren zerknirscht und reumütig. Horace zog einen zerknitterten Schein aus der Rolle mit acht Dollar, die er in einer vergrabenen Kalebasse hinter seinem Haus hortete, ging zu Fuß die sechs Meilen nach Frewsburg und erstand von der Witwe eines Weißen, der im Spanisch-Amerikanischen Krieg verkrüppelt worden war, einen Rollstuhl. Den schob er den weiten Weg entlang der staubigen Straße zurück nach Hause in die Reservation. Und Mildred, die zänkische Gattin, war nicht länger zänkisch. Nicht nur überging sie fortan das Thema der Abstammung des kleinen Jeremy (der Junge war seines Vaters Sohn, ein Kitchawanke, einer der zwei überlebenden Mitglieder des einst so mächtigen Schildkröten-Clans und der rechtmäßige Erbe des Stammeslandes der Kitchawanken im Süden, und damit Schluß), sondern sie widmete auch den Rest ihres Lebens der Pflege ihres Mannes. Sie kochte ihm Opossum und Wildbret, sammelte im Wald Beeren für ihn, fettete ihm das Haar ein und windelte ihn wie einen zweiten Sohn. All das war auch nötig, und mehr als das. Denn Jeremy Mohonk, der Nachfahre unzähliger Kitchawanken, vorletzter seines Volkes, sollte nie wieder laufen können.
    Dort in der Reservation, wo das Licht etwas war, das der sichtbaren Welt ihre Pracht verlieh, wo Flüsse sich vereinten, Bären umherstreiften und die Wolken sanft wie die Hand einer Mutter die sinkende Sonne umfingen, wuchs der Junge zum Manne heran. Er lauschte dem Tau, der des Nachts aufs Gras niedersank, sah der Sonne zu, wenn sie am Morgen aus den Bäumen emporstieg, jagte Wild, spießte Frösche auf, angelte und kletterte und schwamm. In der Reservationsschule lernte er lesen und schreiben, und ein weißer Mann mit gestärktem Kragen und einem Gesicht wie eine überreife Pflaume erzählte ihm dort von Amerigo Vespucci und Christoph Kolumbus; abends hockte er neben dem Rollstuhl seines Vaters und entdeckte die Geschichte seines Volkes.
    Sein Vater saß steif und kerzengerade da, die Arme, die sich beharrlich gegen die Taubheit in Unterleib und Eingeweiden anspannten, auf die Stuhllehne gestemmt. Die Verletzung hatte ihn hager gemacht, er schien von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag dünner zu werden, als hätte Horace Tantaquidgeons Klinge seinen Geist wie Luft aus dem Körper entweichen lassen, so daß nur eine leere Hülle zurückgeblieben war. Trotzdem erzählte er die alten Legenden mit kräftiger, überzeugender Stimme, erzählte sie im Einklang mit dem Atem der Geschichte. Beim erstenmal war Jeremy kaum älter als vier

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