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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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neben ihr nieder und goß sich aus der Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein. Der Kaffee war gut, heiß und schwarz, und schmeckte nach Depeyster Van Warts zehn Jahre altem Cognac. »Den Klabautermann schon gesehen?« fragte er sie.
    »Wen?«
    »Du weißt schon, dieses kleine Kerlchen mit dem Spitzhut und den Schnallenschuhen, das immer irgendwo auf einem Segelmast sitzt und Stürme losheulen läßt und so.«
    Mardi sah ihn lange und mißtrauisch an, und nach kurzem Zögern lächelte sie ihm mit feuchten Lippen zu. Sie sah gut aus, die Mütze tief in die Stirn gezogen und ihr Haar flatternd im Wind. Verdammt gut. Sie hakte ihren freien Arm durch seinen und zog ihn näher heran. »Was hast du denn geraucht?« fragte sie.
    Es war Halloween, die Nacht, in der die Toten aus den Gräbern steigen und die Menschen sich hinter Masken verbergen. Halloween, und es wurde dunkel. Walter stand an Deck der Catherine Depeyster und starrte auf die weiten, unermeßlichen Schattenmassen der stillgelegten Flotte, die sich zu beiden Seiten über ihm erhoben. Diesmal versuchte er nicht, sich an der Ankerkette zur U.S.S. Anima emporzuhangeln, und auch nicht zu einem der übrigen Schiffe. Diesmal war er damit zufrieden, nur die Hände tief in die Taschen zu schieben und zu ihnen hinaufzustarren.
    Mardi war in der Kajüte, wo sie Cognac schlürfte und sich am elektrischen Strahler aufwärmte. Sie hatte die Segel eingeholt und den Motor gestartet, als sie nahe herangekommen waren, weil sie fürchtete, der Wind könne sie gegen eines der großen Schiffe prallen lassen. Nachdem sie das Boot zwischen die stählernen Monster manövriert und geankert hatten, war sie mit der Thermoskanne in die Kajüte gegangen. »Komm rein«, sagte sie, »dieser Wind ist ja schrecklich«, aber Walter rührte sich nicht. Noch nicht jedenfalls. Er dachte an Jessica und spürte bohrend die Schuld und den Verrat, denn er wußte genau, was passieren würde, sobald er zu Mardi in die Kajüte ging. Klar, er konnte es hinauszögern, seine Willenskraft unter Beweis stellen, hier draußen im Wind stehenbleiben und die Schiffe anglotzen, als bedeuteten sie ihm irgend etwas, aber früher oder später würde er ihr in die Kajüte folgen. Es war unvermeidlich. Vorbestimmt. Eine Rolle in einem Stück, die er sein ganzes Leben lang geprobt hatte. Dafür war er zu den Geisterschiffen mitgekommen – dafür und für sonst nichts. »Los, komm«, wiederholte sie, ihre Stimme leise wie ein Schnurren.
    »Gleich«, sagte er.
    Die Kajütentür klappte zu; er wandte nicht einmal den Kopf. Das Schiff direkt über ihm, mit der rostigen Ankerkette und dem von Vogelscheiße bekleckerten Rumpf, war plötzlich etwas Faszinierendes, Fesselndes, außergewöhnlich und einmalig auf der Welt. Er dachte an nichts. Der Wind war schneidend. Er zählte dreißig Sekunden ab und wollte sich gerade umdrehen und dem Unvermeidlichen stellen, als plötzlich etwas – eine leichte Verschiebung der Schatten, eine verstohlene Bewegung – seine Aufmerksamkeit erregte. Dort oben. Hoch oben an der Reling des Schiffs.
    Es war fast dunkel. Er war sich nicht sicher. Aber doch, da war es schon wieder: irgend etwas lief dort oben herum. Ein Vogel? Eine Ratte? Er bemühte sich, die Stelle genau im Auge zu behalten, doch irgendwann mußte er wohl geblinzelt haben – denn plötzlich sah er etwas auf der Reling hocken, wo einen Sekundenbruchteil zuvor noch nichts gewesen war. Von unten, vor der mächtigen, steil aufragenden Schiffswand, sah es aus wie ein Hut – mit breiter Krempe und hoher Krone, von einer Art, die seit Jahrhunderten aus der Mode war, ein Hut, wie ihn die Pilgerväter getragen haben mochten, oder Rembrandt persönlich. In diesem Augenblick, während Walter noch über die schattenhafte Erscheinung nachsann, deutete sich auf einmal ein seltsames, furzendes Geräusch an in der Nische zwischen dem Klatschen der Wellen und dem Ächzen des Windes, ein Geräusch, das Erinnerungen an die Grundschule, an Spielplätze und Sportstadien mit sich brachte: jemand verspottete ihn hörbar.
    Walter sah nach rechts, dann nach links. Er sah nach hinten, nach oben, riß die Bootskiste auf, spähte über die Reling, suchte den Himmel ab – vergebens. Das Geräusch schien von überall und nirgendwo zu kommen, hörte sich an wie ins Gefüge der Nachtluft selbst gewoben. Der Hut lugte immer noch über die Reling des verrotteten Frachters vor ihm, und Mardi – er konnte sie durch die kleinen rechteckigen Fenster erkennen –

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