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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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saß immer noch bequem in der Kajüte. Der furzende Ton wurde lauter, schwoll ab und wieder an, und allmählich merkte Walter, wie ihn ein sonderbares Gefühl beschlich, ein Déjàvu, ein Gefühl, das zur Vergangenheit gehörte, zum Tag seines Unfalls.
    Ja genau, als er jetzt wieder hinaufsah, standen an der Reling des Schiffs dicht gedrängt zerlumpte Gestalten – Penner, dieselben Penner, die er in der Nacht des Unfalls gesehen hatte –, und jeder einzelne ließ die Zunge zwischen den Lippen vibrieren. Und dort, mitten unter ihnen, hockte ihr Rädelsführer – der kleine Kerl in den weiten Hosen und den Arbeitsstiefeln, den sein Vater Piet genannt hatte. Piets Miene war ausdruckslos – stoisch wie die eines Scharfrichters –, und der altmodische Hut saß ihm jetzt auf dem Kopf wie ein umgestürzter Milchkrug. Als Walter ihn genauer betrachtete, sah er, wie der Zwerg die Zungenspitze zwischen den eng zusammengepreßten Lippen hervorschob, um den höhnischen Chor mit seinem eigenen dünnen, aber deutlich unterscheidbaren Beitrag zu verstärken.
    Da stand also Walter, der Empiriker, auf dem Deck einer Kreuzfahrtyacht mitten auf dem dunklen Hudson, in der Nacht vor Allerheiligen, sah sich mit einem Mob spottender Phantome konfrontiert und wußte nicht, was er als nächstes tun sollte. Er halluzinierte. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Er würde zum Psychiater gehen, sich den Kopf bandagieren lassen – irgendwas. Aber vorerst fiel ihm nur eine einzige Reaktion ein, die altbewährte Antwort aus der Schule, wenn ihm jemand die Zunge herausgestreckt und dieses Geräusch gemacht hatte: er reckte ihnen den Mittelfinger entgegen. Alle beide. Und dann fluchte er los, verfluchte sie mit wütender, rauher, kreischender Stimme, bis er heiser wurde, bohrte die ausgestreckten Mittelfinger in die Luft, und seine Füße tanzten in zorniger Ekstase.
    Alles schön und gut. Aber sie waren verschwunden. Er beschimpfte ein verlassenes Schiff, beschimpfte leere Decks und Kojen, in denen seit über zwanzig Jahren niemand mehr geschlafen hatte, beschimpfte toten Stahl. Das prustende Geräusch war völlig verschwunden, und das einzige, was er noch hörte, war das Flüstern einer menschlichen Stimme in seinem Rücken. Mardis Stimme. Er drehte sich um und sah sie in der Kajütentür. Die Tür stand offen, und sie war nackt. Er sah ihre Brüste – seidig und glatt, spitz zulaufend, er erinnerte sich an diese Brüste aus der Nacht seines Zusammenstoßes mit der Geschichte. Er sah ihren Nabel und darunter den faszinierenden Haarbusch, sah ihre Füße, ihre Waden, ihre festen Schenkel, sah die Heizspirale in der abgedunkelten Kajüte hinter ihr einladend glimmen. »Walter, was machst du denn?« fragte sie mit einer Stimme, die ihn wachrubbelte. »Sag mal, ich warte doch auf dich.«
    Das Blut schoß ihm aus dem Kopf in die Lenden.
    »Komm rein und wärm dich auf«, flüsterte sie.
    Es war nach sieben, als die Catherine Depeyster in den Bootshafen getuckert kam. Walter war spät dran. Um halb sieben hätte er im »Elbow« sein sollen, und zwar kostümiert, um Jessica und Tom Crane dort zu treffen. Sie wollten etwas trinken und dann auf eine Party in der Colony fahren. Aber Walter würde sich verspäten. Er war draußen auf dem Fluß gewesen und hatte mit Mardi Van Wart gevögelt. Beim erstenmal – an der Kajütentür – hatte er sich praktisch auf sie geworfen, nach ihrem Fleisch gegrabscht wie ein geiler Satyr, wie ein Sittenstrolch, all seine Dämonen konzentriert auf den Schlitz zwischen ihren Beinen. Das zweite Mal war ruhig, behutsam, liebevoll. Sie streichelte ihn, fuhr mit der Zunge über seine Brust, hauchte ihm ins Ohr. Er streichelte sie ebenfalls, verweilte lange bei ihren Brustwarzen, hob ihren Körper über sich – er vergaß sogar für Augenblicke den verkrüppelten, abgerissenen Stumpf seines Beines und das leblose Stück Plastik, in dem es endete. Jetzt, während er ihr beim Vertäuen der Yacht half, wußte er nicht genau, was er empfand. Schuldgefühle auf jeden Fall. Schuldgefühle und das heftige Bedürfnis, ihr die Hand zu schütteln, einen Kuß aufzudrücken oder so und dann zu verschwinden. Sie hatte erzählt, sie fahre noch auf eine Party nach Poughkeepsie, und er könne mitkommen; er hatte gestottert, daß er im »Elbow« mit Jessica und Tom verabredet sei.
    Er beobachtete ihre Miene, als sie die Taue verknotete und ihre Sachen einpackte. Sie war unverbindlich. Er dachte an sein Motorrad, einen schnellen Abgang,

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