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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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drahtgefaßten Brille wirkte Sasha Freeman ohnehin wie ein wirrer Student, und jetzt war er vollkommen verdutzt. »Dann bist du ... dann bist du also ein –?«
    »Stimmt genau«, sagte Jeremy und fühlte sich stark werden, als wäre er ein fest verwurzelter Baum, als zöge alle Stärke des Bodens, in dem seine Urahnen begraben lagen, mit einem Mal in ihn ein. Er hatte es immer für sich behalten, aber jetzt sprach er es aus. »Ich bin der Letzte der Kitchawanken.«
    Es war der Anfang einer Freundschaft.
    In den nächsten zwei Jahren – bis zum Ausbruch der Wirtschaftskrise, die Sasha zwang, wieder zu seinen Eltern in die Lower East Side zu ziehen, und der Gießerei den Garaus machte, so daß Jeremy seine Stelle verlor und die Pension verlassen mußte, um bei Rombout Van Wart sein Geburtsrecht einzufordern – trafen sie fast jedes Wochenende zusammen. Keiner von beiden besaß ein Auto, daher fuhr Sasha mit dem Fahrrad vom Haus seiner Großeltern in der Kitchawank Colony herüber, und dann wanderten sie am Fluß entlang, angelten in den Buchten oder kletterten auf einen der Gipfel der Highlands und übernachteten dort wie Jeremys Vorfahren, in einem Wigwam aus geflochteten Zweigen. Oder sie nahmen den Zug nach New York und gingen in den neuesten Film von Chaplin, Pickford oder Fairbanks, hörten Vorträge über die Volksrevolution in Rußland oder besuchten Versammlungen der Industrial Workers of the World.
    Sasha Freeman seinerseits, Stadtkind und Schriftsteller in spe, der in jenem Herbst 1927 sein Examen an der New York University gerade drei Monate hinter sich hatte und für ein Trinkgeld an der Freien Schule der Colony unterrichtete, fand in Jeremy den Weg zu einem älteren, tieferen Wissen. Es war, als hätte die Erde sich aufgetan und die Felsen zu sprechen begonnen. Jeremy lehrte ihn nicht nur, wie man einen Fuchs von einem Reh am Laufgeräusch unterschied oder welche Kräuter wie zubereitet man gegen Nesselausschlag, Mitesser und Diphtherie auflegte, vermittelte ihm nicht nur die Fähigkeit, ohne viel mehr als die eigenen Kleider am Leib im Wald zu überleben – nein, er gab ihm mehr, viel mehr: er gab ihm seine Geschichten: Legenden. Historisches Wissen. Sie saßen ums Lagerfeuer gedrängt, auf Anthony’s Nose oder Breakneck Ridge im stiebenden Schnee, und Sasha Freeman erfuhr die Geschichte von Jeremys Volk, einem Volk, das ebenso in der Diaspora lebte wie sein eigenes, in Reservationen zusammengetrieben, die ihn an die Gettos von Krakau, Prag und Budapest erinnerten. Er lauschte den Erzählungen von Manitous Großer Frau, von Horace Tantaquidgeons Verrat, von der Indianerschule und dem Chauvinismus des pflaumengesichtigen Oberlehrers im gestärkten Kragen. Der Rauch stieg zum Himmel auf. Es wurde Frühling, Sommer und wieder Herbst. Der Indianer grub jede Legende, jede Erinnerung aus, gab seine Geschichte preis, als wäre es ein Letzter Wille.
    Acht Jahre später veröffentlichte Sasha Freeman sein erstes Buch, eine Polemik mit dem Titel Marx unter den Mohikanern . Darin ließ er den erhabenen Vater des Kommunismus in die Zeit der Ureinwohner Amerikas zurückreisen und Punkte gegen den Sklavenstaat der modernen Industriegesellschaft sammeln. Was machte es schon, wenn nur siebenundfünfzig Exemplare verkauft wurden, die Hälfte davon bei einer Versammlung der Liga der Jungen Sozialisten, zu der sechs seiner Cousins aus der Pearl Street gekommen waren? Was machte es schon, daß es in einem Keller gedruckt worden war und der Einband aus Papier zerfiel, wenn man nur zweimal scharf hinsah? Es war ein Anfang.
    Und was bekam Jeremy als Gegenleistung? Vor allem einen Freund – Sasha Freeman war der erste Weiße, den er je zum Freund gehabt hatte, und auch sein einziger Bekannter in Peterskill. Aber das war noch nicht alles. Auch Jeremy war zu einer neuen Denkungsart erwacht, zu einem neuen Blickwinkel auf die Welt, die sein Volk aufgefressen hatte wie Lämmer auf der Weide: er wurde radikal. Sasha nahm ihn mit zu geheimen Treffen der I.W.W., lieh ihm Zehn Tage, die die Welt erschütterten und Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte , gab ihm Marx, Lenin und Trotzki, Bakunin, Kropotkin, Proudhon und Fourier zu lesen. Jeremy lernte, Eigentum sei Diebstahl und die umstürzlerische Tat die wirksamste Propaganda. Vor einer Schuhfabrik in Paramus, New Jersey, wurde er von gedungenen Schlägern verprügelt, auf den Straßen von Brooklyn, Queens und im unteren Manhattan bekam er Totschläger, Gummiknüppel, Schlagringe

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