Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
einer geborenen Straehler. Die gutbürgerliche Familie wuchs im Lauf der Jahre auf sieben Köpfe an – Gerharts Geschwister hießen Georg, Johanna, Charlotte und Carl. 1868 trat der junge Gerhart in die Volksschule ein und wechselte 1874 auf die Realschule in Breslau, die er vier Jahre lang besuchte. Hauptmanns früher Lebensweg war von zahlreichen Experimenten geprägt. So fing er 1878 als Landwirtschaftsschüler auf Gut Lohnig bei Striegau an, machte gleichzeitig aber auch seine frühesten literarischen Versuche. Ein Jahr später brach er die Lehre ab und kehrte nach Breslau zurück, wo er ab 1880 – bis zur mittleren Reife – die Bildhauerklasse der Königlichen Kunst- und Gewerbeschule besuchte. Danach versuchte er sich 1882 kurzzeitig als Student der Geschichte an der Universität Jena, reiste 1883 nach Rom, um sich an der Stätte klassischer Kunst als Bildhauer zu betätigen, besuchte im Jahr darauf die Zeichenklasse der Königlichen Akademie in Dresden, wechselte dann aber noch im selben Jahr nach Berlin, um dort – bis 1885 – Naturwissenschaften und Philosophie zu studieren.
1885 heiratete Hauptmann Maria Thienemann, die Tochter eines reichen Wollhändlers aus Radebeul bei Dresden, die ihm in den nächsten beiden Jahren zwei Söhne schenkte, Ivo und Eckart. 1885 besuchte Hauptmann auch zum ersten Mal die Ostseeinsel Hiddensee, auf der er dann ab 1916 regelmäßig zu Gast war und wo er 1930 schließlich das Haus »Seedorn« kaufte. Mit der frisch gegründeten Familie wohnte Hauptmann bis 1889 in Erkner bei Berlin. Einen wichtigen Katalysator für seine schriftstellerische Zukunft stellten seine Kontakte zum literarischen Verein »Durch« dar, dem unter anderem die Brüder Heinrich und Julius Hart, Bruno Wille, Johannes Schlaf sowie – als wichtigste Persönlichkeit – Arno Holz, einer der Begründer und Theoretiker des Naturalismus, angehörten.
»ICH GLAUBE, ICH BIN EIN GENIE«
Den Satz, in dem Hauptmann sich zum Genie erklärt, schrieb er 1885 an den prominenten dänischen Literaturkritiker Georg Brandes, einen Freund des von ihm hochverehrten norwegischen Schriftstellers Henrik Ibsen. Eigentlich hatte Hauptmann zu diesem Zeitpunkt wenig vorzuweisen, worauf er diesen Anspruch stützen konnte. Er hatte jegliche berufliche Ausbildung abgebrochen, hatte es weder auf der Kunstschule noch auf der Akademie oder an der Universität lange ausgehalten und hatte weder die Lehre als Landwirt noch das Abenteuer als römischer Monumentalbildhauer zu einem Erfolg geführt. Auch seine ersten literarischen Werke waren alles andere als vielversprechend. Sein in Stanzen gehaltenes Epos »Promethidenlos« wurde bald nach Erscheinen 1885 aus dem Handel genommen, die »Jesus-Studien« blieben im Zustand einer bloßen Materialsammlung.
Mit seiner Selbsteinschätzung verband Hauptmann eine Vorstellung, die zumindest andeutet, warum er bald zum bedeutendsten Dichter des Naturalismus werden sollte. In einem Brief vom 19. Februar 1885 schrieb er: »Mit dem Namen des Genies bezeichne ich die Mitglieder einer Klasse von Menschen, die dazu berufen zu sein scheinen, in den ersten Reihen für die Wahrheit zu kämpfen, der sie dienen und nachfolgen, ohne je mehr als ein Zipfelchen ihres Gewandes zu sehen.«
Eine solche Wahrheitsvorstellung bildete die Klammer zwischen Hauptmanns ersten Dichtungen und seiner späteren naturalistischen Praxis, die die »Wahrheit« in die adäquate Form gießt: in ein authentisches Sprachmilieu, eine detailgenaue Nachzeichnung der Wirklichkeit – getragen vom Verzicht auf alle »verlogenen« Stilmittel. Darin wurde Hauptmann durch die Mitglieder der Gruppe »Durch« bestärkt – bestärkt, aber nicht festgelegt in jener strikten Konsequenz, wie sie vor allem Arno Holz verlangt hatte. Denn am Ende sollte Hauptmanns umfangreiches, stilistisch und thematisch wenig einheitliches Gesamtwerk Märchendramen ebenso umfassen wie volksliedhafte Lyrik oder monumentale Romane. Zunehmend sollte er sich zur dichterischen Tradition und insbesondere zum Vorbild Johann Wolfgang Goethes bekennen. Seine religiösen und moralischen Überzeugungen ließen ihn von jeder einengenden künstlerischen Konzeption abrücken und neben realistischen auch romantische und symbolistische Motive aufgreifen. Bezeichnend war, wie Hauptmann rückblickend – und sicher etwas zu schroff – sein Verhältnis zum Naturalismus kennzeichnete: »Was ging das Geschwätz vom Naturalismus mich an? Aus Erde ist ja der Mensch gemacht, und es
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