Worte der weißen Königin
leider nicht sehr hell war. Dann ging ich zum Fenster, so wie in jener Nochwinternacht vor zwei Jahren, in der ich begonnen hatte, auf meinen Seeadler zu warten.
Vor dem Fenster war kein schwarzer König. Vor dem Fensterwar gar niemand. Ich sah nur mein Spiegelbild in der Scheibe: das Spiegelbild eines mageren Jungen mit kurzen, struppigen braunen Haaren und Sommersprossen.
»Nein, du Dummkopf«, sagte das Spiegelbild, »ich bin nicht dein Spiegelbild.«
Ich erschrak noch mehr und versuchte, nicht erschrocken auszusehen.
»Nein?«, fragte ich, und meine Stimme zitterte. »Wer bist du dann?«
»Mach dir nicht gleich in die Hosen, Angsthase«, sagte das Spiegelbild. »Ich tu dir schon nichts. Du kennst mich. Du erinnerst dich bloß nicht.«
»Bist du … der Schatten im Wald?«, fragte ich.
Das Spiegelbild, das keines war, nickte. »Du kennst mich von früher. Du warst noch klein. Ich sehe aus wie ein Junge, wegen den kurzen Haaren. Ich bin kein Junge. Ich bin deine Schwester.«
»Meine Schwester?«, flüsterte ich. »Nein. Ich habe keine Schwester.«
»Oh doch«, sagte sie, »das hast du. Aber ich war schlau genug wegzulaufen, als es noch ging. Ich war drei und du warst zwei. Da bin ich weggerannt und nicht zurückgekommen. Seitdem wohne ich in den Wäldern.«
Ich fragte mich, wie man mit drei Jahren allein in den Wäldern wohnen konnte. Und wie sie sich vor meinem Fenster in der Luft halten konnte. Dann sah ich, dass sie auf dem Fensterbrett saß. Sie musste unglaublich gut klettern können, um da hinaufzukommen.
»Ist es nicht kalt und einsam da?«, fragte ich. »In den Wäldern?«
»Kalt und einsam?« Sie schien zu überlegen. »Manchmal. Aber ich habe die Füchse und die Rehe und die Dachse …«
»Und die Seeadler«, sagte ich.
Meine Schwester nickte. »Warum hast du dich nicht gewehrt?«
»Gegen den schwarzen König?«, fragte ich. »Woher weißt du …«
Sie schnalzte ungeduldig mit der Zunge und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich weiß eine Menge. Warum hast du dich nicht gewehrt?«
»Warst du da? Im Hof? Hast du uns beobachtet?«
»Warum hast du dich nicht gewehrt?«, fragte sie ein drittes Mal.
»Ich weiß nicht mal, wie du heißt«, sagte ich.
»Olin«, antwortete sie. »Und sag mir nicht, dass das ein komischer Name ist. Das weiß ich selbst. Unsere Mutter hatte eine Vorliebe für komische Namen.«
In diesem Moment gab es einen winzigen Knall und die Glühbirne meiner Nachtlampe brannte durch. Ich stand in absoluter Dunkelheit. Als ich es geschafft hatte, das Fenster nach innen zu öffnen, und meine Hand tastend hinausstreckte, saß dort niemand mehr auf dem Fensterbrett.
Olin war fort. Nur ihre Frage hatte sie dagelassen.
Warum hast du dich nicht gewehrt?
»Wie denn?«, flüsterte ich in die Nacht. »Ich bin erst sieben. Ich könnte nie allein im Wald leben, und ich könnte nichtauf ein Fensterbrett im ersten Stock klettern. Und ich habe keine scharfen Krallen und keinen starken Schnabel wie die Adler.«
»Auf gewisse Weise ist jeder wie ein Adler«, hörte ich die weiße Königin sagen. Aber sie sagte es nur in meiner Erinnerung.
Am nächsten Morgen war der schwarze König fort. Mein Vater war schon wach, als ich in die Küche kam. Er hatte Frühstück gemacht. Ich sah die Schnapsflasche im Mülleimer stehen. Sie war noch halb voll. Mein Vater sah mich an, und ich blickte zu Boden. Ich spürte, wie sein Blick mein Gesicht abtastete und über die blauen Flecken auf meinen Unterarmen glitt, die ich über meinen Kopf gehalten hatte.
»Lion«, sagte er, und seine Stimme war ganz anders als die Stimme, die mich angeschrien hatte. »Was gestern geschehen ist … gestern … das war nicht ich.«
»Nein«, sagte ich und sah auf. »Ich weiß. Das war der schwarze König.«
Mein Vater schüttelte den Kopf. Es schien in ihm zu arbeiten, und dann war es, als hätte er etwas begriffen.
»Er wird nicht wiederkommen«, sagte er fest. »Nächste Woche finde ich eine neue Arbeit. Oder übernächste Woche. Ich habe dir gesagt: Ich bin ein Verlierer …«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das hat der schwarze König gesagt.«
»Ja. Der schwarze König. Deine Mutter hat es auch gesagt. Ich werde ihnen beweisen, dass sie unrecht hatten. Und du,Lion, versprich mir eines: Lern alles, was du lernen kannst in der Schule. Sieh zu, dass du einen anständigen Schulabschluss machst. Wenn du dir Mühe gibst, kannst du irgendwann die zehnte Klasse machen. Und danach eine Lehre.
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