Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
Vom Netzwerk:
König erklären, dass ich Worte in den Büchern finden musste? Nicht einmal mein Vater würde es verstehen.
    Der schwarze König kam einen Schritt auf mich zu, und ich stand noch immer reglos da. Er bückte sich nach meiner Schultasche, und ich roch wieder den Schnaps in seinem Atem. Ich konnte nicht zusehen, wie er meine Schultasche umkippte. Ich hob den Blick und sah zu den Spatzen, die auf dem Schuppendach saßen. Dort oben saß noch jemand. Olin, meine Schwester. Sie saß rittlings auf dem Dachfirst, und sie winkte mir.
    »Lauf!«, rief sie. »Lauf weg!«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht laufen. Es ging nicht. Meine Beine waren eins mit dem Erdboden. Der schwarze König hielt einen Stapel Bücher vor mein Gesicht. Neue Bücher, auf denen noch der Preis klebte, wie er gesagt hatte.
    »Woher?«, wiederholte er.
    »Aus dem Laden«, flüsterte ich. »In der Stadt.«
    »Du stiehlst sie«, sagte der schwarze König. Er packte mich an der Schulter. »Sieh mich an.«
    Ich wollte ihm nicht in die rot geränderten Augen sehen. Es war, als könnte sein Blick mich verbrennen.
    »Stiehlst du sie?«, fragte er.
    »Nein«, flüsterte ich. »Ich … ich bringe sie alle zurück. Gleich morgen!«
    Der schwarze König nickte. »Das wirst du tun«, sagte er. »Und du wirst nie wieder stehlen.« Seine Hand zitterte, und er stützte sich auf mich. Er sprach noch immer ganz ruhig, aber seine Zunge war schwer, und er war unstet auf den Beinen. »Weißt du, was mit Leuten geschieht, die stehlen?«, fragte der schwarze König. »Sie werden bestraft.«
    »Lauf!«, schrie Olin noch einmal vom Schuppendach. Doch meine Füße ließen sich noch immer nicht heben. Plötzlich wurden die Bewegungen des schwarzen Königs schnell und beinahe sicher. Er hielt jetzt den Strick in der Hand, den er vom Hals der Ziege gelöst hatte. Ich duckte mich. Mehr konnte ich nicht tun.
    Und dann sauste das Ende des Stricks auf mich nieder. Immer und immer wieder. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass der schwarze König die Bücher achtlos hatte fallen lassen, und ich machte mir Sorgen darüber, dass sie staubig und dreckig wurden. Denn wegen des Stricks konnte ich mir keine Sorgen machen. Es hätte nichts genützt. Ich kniff die Augen zu und machte mich klein, krümmte mich auf dem Boden zusammen und spürte, wie die wahnsinnigen Hände des schwarzen Königs mein T-Shirt zerrissen. Da nahm ich alle Worte, die ich hatte, und legte sie zwischen meine nackte Haut und das Ende des Stricks. Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall. Rikki Tikki Tavi … Warum hatte ich die übrigen Worte vergessen? Die, die ich hatte, reichten nicht aus. Ich weiß nicht, wie lange ich die Worte vor mich hin murmelte und wie lange der Strick durch die Luft zischte. Ich weiß nur, dass ich irgendwann die Augen aufschlug und der schwarze König fort war.
    Ich war allein. Eine der Ziegen schnupperte an mir. In meinem Mund war Erde. Auf dem Schuppendach saß meine Schwester und schüttelte den Kopf.
    »Warum bist du nicht gelaufen?«, fragte sie.
    Dann stand sie auf, balancierte auf dem First des Daches entlang, sprang auf der anderen Seite hinunter.
    Es dauerte, bis ich die Kraft gefunden hatte, aufzustehen und um den Schuppen herumzugehen. Olin war längst verschwunden.
    Von diesem Tag an war der Ziegenstrick das Zeichen des schwarzen Königs. Sein Zepter, sein Schild und sein Schwert. Ich fand den Strick abends unter der Spüle, ordentlich eingerollt neben dem Mülleimer, und ich tat so, als hätte ich ihn nicht gesehen. Ich brachte die Bücher zurück, gleich am nächsten Tag. Die Buchfrau merkte wieder nichts. Die drei Bücher, die im Dreck gelegen hatten, stellte ich ganz hinten ins Regal.
    Ich ging nicht zur Schule. Wir hätten Sport gehabt, und für Sport musste man sich umziehen. Ich hatte keine Lust, jemandem zu erklären, warum auf meinem Rücken die blutigen Striemen eines Stricks zu sehen waren. Es ging niemanden etwas an.
    Ich fuhr mit dem ersten Bus zurück nach Hause, doch ich ging nicht ins Haus. Ich ging in den Wald. Und an diesem Tag sah ich meinen Adler wieder.
    Es war wie ein Geschenk. Als gäbe es irgendwo eine höhere Gerechtigkeit – jedes Mal, wenn etwas Schlimmes passierte, passierte auch wieder etwas Gutes.
    Ich ging zu der Lichtung im Wald, die an einer Seite durch den Deich begrenzt wurde. Jener Lichtung, auf der vor langer Zeit an einem grauen Nochwinterabend eine tote Ziege gelegen hatte. Seitdem war ich oft dorthin zurückgekehrt; ich hatte

Weitere Kostenlose Bücher