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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Waldes wurden gelb und rot und braun, und sie sahen wunderschön aus, wenn sie durch die Sonnenstrahlen herabrieselten. Einmal kam ich an einem Haus am Waldrand vorbei, an dessen Wand reife Weintrauben hingen. Die Weinblätter waren dunkelrot mit hellgrünen Adern und sahen aus, als hätte jemand sie einzeln aus Buntpapier ausgeschnitten und bemalt. An der Tür des Hauses hing ein Schild, auf dem TIERARZTPRAXIS stand, und ich fragte Rikikikri, ob er zufällig gerade eine Erkältung habe.
    Ich wollte, dass Olin die Blätter mit mir sah und mit mir über das Schild lachte. Ich wollte wieder mit ihr an einem Feuer sitzen und in die Sterne sehen, denn ich wusste, sie hätte sich getraut, ein Feuer zu machen. Aber die Tage vergingen ohne Olin.
    Wie froh war ich, dass ich Rikikikri hatte, der bei mir blieb!
    Und dann lag Rikikikri eines Tages neben mir, als ich aufwachte, und rührte sich nicht. Seine Augen waren glasig, als fieberte er. Wir hatten in der Nähe eines Baches geschlafen,und ich versuchte, ihm ein wenig Wasser einzuflößen. Doch er sah mich nur unendlich müde an.
    »Was ist los mit dir?«, flüsterte ich. »Stirb jetzt bloß nicht, sonst bin ich allein! Du bist mein einziger Freund! Du bist meine ganze Familie!« Schließlich hob ich ihn auf.
    Und ich wanderte den ganzen Weg mit meinem Adler auf den Armen zum Haus des Tierarztes zurück. Es war die einzige Möglichkeit. Ich wartete, bis es dunkel wurde, ehe ich meinen leblosen Adler vor die Tür legte, die der wilde Wein umrankte. Es fiel mir unendlich schwer, das zu tun.
    »Ich hole dich wieder ab«, flüsterte ich Rikikikri zu. »Hab ein bisschen Geduld. Du wirst wieder gesund, und dann hole ich dich ab und wir ziehen wieder zusammen durch die Wälder. Die weiße Königin muss eben doch noch ein wenig länger auf uns warten.«
    Ich schlich den kleinen Weg entlang, der zum Haus führte, und versteckte mich hinter einem Busch. Von dort aus warf ich einen Stein gegen die Haustür.
    Es dauerte eine Weile, bis sich die Haustür öffnete, und mein Herz schlug wild. Würden sie Rikikikri in diesem Haus helfen? Oder halfen sie nur Hunden und Katzen und Hamstern? Sie würden ihm doch nichts antun?
    Schließlich trat jemand aus der Tür und beugte sich über meinen Adler. Es war eine Frau mit langem grauem Haar und einem blauen Arbeitskittel. Sie war sehr klein für eine erwachsene Frau, aber sie sah auch sehr energisch aus. Ich sah, wie sie den Kopf schüttelte, und hörte sie etwas murmeln. Schließlich hob sie Rikikikri auf und trug ihn ins Haus.
    Ich kletterte auf den Dachboden des kleinen Schuppens hinter dem Haus. Der Schuppen war außen voller Efeu und innen voller Werkzeuge und Gartengeräte. Ich wusste, dass es zu gefährlich war, dort zu schlafen. Aber ich musste doch in der Nähe bleiben! Ich schlief aber sowieso nicht. Ich hatte die ganze Nacht über Angst um meinen Freund.
    Vielleicht konnte ihm die Frau in dem blauen Kittel nicht helfen. Vielleicht starb er wirklich. Ich dachte an das Blei, das die Adler nicht fressen durften, das Blei in den Körpern der erlegten Rehe und Hasen. Aber nein, daran starb man nicht so plötzlich. Was war geschehen mit meinem Adler?
    Vielleicht, dachte ich, lebte der schwarze König noch, vielleicht war er jetzt wieder gesund, und nun tötete er meinen Adler von fern. Ich werde so viele von euch töten, wie ich kann, hatte er gesagt. Bis ihr mir den Jungen zurückgebt.
    Es war meine Schuld. Es war alles meine Schuld.
    Durch ein verschmiertes Schrägfenster im niedrigen Schuppendach konnte ich die Rückseite des Hauses sehen und die offene Veranda, die es an dieser Rückseite gab. Der wilde Wein rankte auch an den Balken der Veranda empor, die reifen Trauben hingen von ihrem Dach herab, und ein Schaukelstuhl stand dort und wartete darauf, dass man sich hineinsetzte und schaukelte und Trauben aß.
    Gegen Morgen trat die Frau auf die Terrasse. Sie war allein, sie trug keinen Adler auf ihren Armen. Sie trug ein altmodisches schwarzes Telefon, so eines mit Wählscheibe und langem Kabel.
    »Ja, denk dir«, sagte sie sehr laut in das Telefon. »Er lageinfach vor meiner Tür. Das ist nun wirklich und wahrhaftig das erste Mal, dass ich einen Seeadler in meiner Praxis habe. Ein Riesenbiest. Ich habe seine Spannweite gemessen. Zwei Meter dreißig. Gott! Er hat wahrscheinlich einen der Fuchsköder gefressen. Es geht ihm nicht gut, aber er wird es schaffen. Eine Weile werde ich ihn hierbehalten müssen, ein paar Tage sicher,

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