Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
Vom Netzwerk:
er aus einem langen, langen Schlaf erwacht. Schließlich begann er, seine Flügel zu putzen. Er war allein. Die Tierärztin war nirgendwo zu sehen.
    »Geh nicht, geh nicht, geh nicht«, hörte ich Olin in meinem Kopf sagen.
    Ich ging. Ich musste gehen. Ich wusste, dass Olin recht hatte, aber Olin hatte nie jemanden geliebt. Ich rannte die schmale Holzstiege vom Dachboden hinunter, ich rannte durch den Garten bis zum Haus, ich rannte die drei Stufen zur Veranda hinauf und schlang die Arme um meinen Adler. Er erschrak ein wenig, denn es war lange her, dass er mich gesehen hatte – zwei Wochen bestimmt. Dann putzte er statt seines Flügels meinen Ärmel. Wie eine zu groß geratene, gefiederte Katze.
    Mir war, als müsste ich gleichzeitig lachen und weinen, so froh war ich, meinen Adler wiederzuhaben, und ich vergaß alle Tierärzte und alle Polizisten auf der Welt, überhaupt alles: Es gab nur mich und Rikikikri und die Veranda mit ihren roten Weinranken.
    »Kannst du denn fliegen?«, flüsterte ich. »Kannst du denn wieder fliegen?«
    Da stand mein Adler auf und reckte die Flügel, als hätte er mich genau verstanden. Er hüpfte die Stufen der Veranda hinunter auf die Wiese, und dort reckte er seine Flügel noch einmal. Zwei Meter dreißig, hatte die Tierärztin gesagt. Doch Rikikikris Flügel kamen mir weiter vor als zwei Meter dreißig. Sie kamen mir so weit vor, als könnten sie die ganze Welt umspannen. Meine Welt jedenfalls.
    Er schlug sie ein paarmal auf und ab – und stieg hinauf in die Luft, zögernd noch, dann immer sicherer. Ich sah ihn über dem wilden Garten kreisen, über dem Rankenhaus, über dem Efeuschuppen – ich sah, wie glücklich er war, wieder frei zu sein.
    »Ich … ich habe noch nie so etwas gesehen«, sagte jemand hinter mir.
    Ich fuhr herum. Im Türrahmen stand die Tierärztin. Sie hielt ein Tablett in der Hand. Solange sie das Tablett hielt, dachte ich, konnte sie nicht nach mir greifen. Und auch nicht nach dem Telefon.
    Ich stellte mir vor, was Olin an meiner Stelle gesagt hätte, und genau das sagte ich.
    »Er hat schon jemanden angegriffen«, sagte ich, »der mir etwas tun wollte. Ich warne Sie.«
    »Danke«, sagte die Tierärztin. »Warnungen sind meistens nützlich. Möchtest du Kaffee mit oder ohne Milch?« Sie stellte zwei Tassen auf den kleinen Tisch, eine Kanne und eine Milchtüte.
    »Danke … nur … nur Milch«, stotterte ich und vergaß, über Olin nachzudenken.
    Die Tierärztin setzte sich in ihren Schaukelstuhl, und kurz darauf saß ich ihr gegenüber in einem anderen Stuhl und hatte tatsächlich eine Tasse Milch in den Händen. Ich wusste gar nicht, wie das hatte passieren können. Vielleicht lag es daran, dass Rikikikri noch immer über uns kreiste, glücklich und hoch oben.
    »Ich habe noch nie gesehen«, fuhr die Tierärztin fort, »dass ein Seeadler so zahm ist. Es ist … erstaunlich.«
    »Ist er wieder gesund?«, fragte ich.
    Sie nickte. »Nimm doch eine Butterstulle«, sagte sie. »Da auf dem Tablett ist auch Marmelade.« So aß ich seit einer Ewigkeit wieder ein ganz normales Frühstück, das weder geklaut war, noch aus Fisch bestand. Ich dachte: Wenn ich alles aufgegessen habe, renne ich weg, so schnell ich kann. Aber dann landete Rikikikri auf meinem Knie und ließ sich ebenfalls mit Butterstullen füttern, und ich rannte nirgendwohin.
    Es war wie an dem Abend, an dem ich erfahren hatte, dass mein Adler nicht sterben würde, und dann umgefallen und eingeschlafen war. Ich war nach all der Zeit ohne Menschen und ohne Teller und ohne Butterstullen innerlich zu erschöpft, um zu rennen. Ich war einfach nur dankbar, dass ich hier auf dieser Veranda sitzen und dem Herbstlicht zusehen durfte, das die Weinranken zum Leuchten brachte.
    Einmal sah ich einen Schatten oben auf dem Dach der Veranda. Ich war mir sicher, dass es Olin war. Sie saß dort undbeobachtete uns und schüttelte den Kopf über meinen Leichtsinn. Doch die Tierärztin sagte nichts über das Radio oder über Kinder, die gesucht wurden. Sie sagte gar nicht viel. Sie sah nur mich und Rikikikri an und schien auf eine geheime Weise glücklich zu sein.
    »Ich kenne eine alte Dame mit weißem Haar«, sagte ich, »die Geschichten vorliest. Wenn dies eine Geschichte wäre … dann wären Sie meine Mutter. Die ist nämlich weggegangen, als ich sehr klein war, und ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wie sie aussieht.«
    Die Tierärztin nickte. Ihre grauen Wellenhaare wippten ein wenig auf und ab

Weitere Kostenlose Bücher