Worte der weißen Königin
dabei.
»Ja«, sagte sie, »das wäre eine schöne Geschichte, in der ein Junge völlig zufällig seine Mutter findet. Nur ist die Geschichte leider nicht wahr. Ich habe zwar noch kein weißes Haar, aber ich bin wohl ein bisschen zu alt, um deine Mutter zu sein.«
Ich seufzte. »Das dachte ich mir schon. Und außerdem ist sie im Westen.«
»Da war ich auch mal«, sagte die Tierärztin. »Dann bin ich hierhergekommen. Hier gefiel es mir besser. Mehr Platz zum Atmen.«
Vor Verblüffung ließ ich beinahe das Marmeladenglas fallen.
»Es gibt Leute, die den umgekehrten Weg gehen?«
»Es gibt immer Leute, die den umgekehrten Weg gehen«, sagte die Tierärztin, und da dachte ich, dass sie sich tatsächlich anhörte wie die weiße Königin.
»Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall«, sagte ich deshalb. »Das war die erste Geschichte, die sie vorgelesen hat.«
Die Tierärztin stand auf und ging nach drinnen, und als sie wiederkam, trug sie ein Buch. Sie legte es vor mich auf den Tisch. »Die Geschichte ist da drin«, sagte sie. »Und noch eine Menge andere Geschichten.«
»Kennen Sie die weiße Königin?«, fragte ich.
»Nein. Es gibt das Buch viele Tausend Mal, weißt du. Millionen Mal. Es ist ein altes Buch. Du kannst es ruhig aufschlagen.«
Ich streckte die Hand aus. Unter meinen Nägeln waren dicke schwarze Ränder. Die Ärmel meines Kapuzenpullovers waren steif vor Dreck. Ich zog die Hand wieder zurück.
»Nein«, sagte ich. »Ich bin zu schmutzig.«
»Wie wäre es, wenn du duschen würdest?«
»Hier?«
»Na ja, nein. Auf der Veranda gibt es keine Dusche. Ich meinte mehr im Badezimmer. Deine Sachen könnte ich auch in die Waschmaschine stecken.«
Ich senkte den Kopf. Ich hätte nie damit anfangen sollen, mich mit dieser Frau zu unterhalten, denn jetzt ging es mir wie dem Fuchs in der anderen Geschichte. Sie zähmte mich. Und ich begann, mich vor ihr zu schämen.
»Ich … ich habe diese Sachen schon ziemlich lange an«, sagte ich ganz leise. »Seit … Anfang April. Ich glaube, wenn man sie wäscht, fallen sie auseinander.«
»Und wenn ich dir was anderes gebe? Zum Anziehen. Von mir? Wir sind ungefähr gleich groß.«
Ich ließ mich von ihr ins Badezimmer führen, denn ich dachte, dass ich dann das Buch anfassen konnte. Das Haus war ziemlich durcheinander, ein wenig wild, wie der Garten. Es sah nicht perfekt aus, und auch nicht, als hätte die Tierärztin viel Geld, und ich war sehr erleichtert, weil ich sie jetzt nicht hassen musste.
Im Bad achtete ich darauf, nicht in den Spiegel zu sehen, falls Olin dort wäre. Bei einer fremden Person zu duschen, die ein Telefon besaß und sicherlich ein Radio, war Wahnsinn. Vor allem, wenn man es tat, um ein Buch anfassen zu können.
Erst stellte ich die Dusche warm, aber dann erschrak ich vor dem warmen Wasser, das ich nicht mehr gewohnt war, und duschte lieber kalt. Der Seifenschaum, der an mir hinunterrann, war schwarz vor Dreck. Die Tierärztin hatte mir einen Kamm hingelegt, aber meine Haare ließen sich nicht kämmen. Ich fand eine Nagelschere und schnitt sie einfach alle ab. Jetzt sah ich wenigstens nicht mehr aus wie ein Mädchen.
Die Kleider der Tierärztin passten mir überhaupt nicht. Das Hemd ging noch, aber die Hose war viel zu weit. Darin hätten zwei Lions Platz gehabt, oder drei.
»Warte«, sagte sie, als ich wieder aus dem Bad kam, und kramte in einem Schrank im Flur herum. »Ich finde gerade keinen Gürtel, aber das hier sollte auch gehen.«
Sie hielt mir einen Strick entgegen, und ich wich zurück. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich drehte mich um und rannte auf die Veranda und fand meinen Adler dort und schmiegte mein Gesicht an seinen Hals.
Die Tierärztin kam mir nach. Mein zu großes Hemd war einwenig verrutscht, und ich glaube, sie sah ein Stück von meinem Rücken, denn ganz plötzlich sagte sie »Oh« und »Ach so« und »Vielleicht nehmen wir einfach ein Stück Bindfaden als Gürtel …«.
Da wusste ich, dass der schwarze König seine Handschrift nicht nur in meinem Gesicht hinterlassen hatte. Ich drehte mich um.
»Fragen Sie mich ruhig«, sagte ich, so fest ich konnte, »aber antworten werde ich nicht, das kann ich Ihnen sagen.«
»Isst du wohl Nudeln mit Käsesoße?«, fragte die Tierärztin.
Darauf antwortete ich doch, nämlich mit einem Nicken. Und weil der Abend kühl war, aßen wir kurz darauf drinnen neben einem Kaminfeuer Nudeln mit Käsesoße. Einen Moment lang hatte ich Angst, ich hätte vielleicht verlernt,
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