Worte der weißen Königin
Grube hinabzusteigen.
Ich lief bis zum Ende der Grube und wollte dort hinaufklettern, aber ehe ich es tat, drehte ich mich noch einmal um. Das war ein Fehler.
Der schwarze König war ganz nah. Nur die Länge der Grube trennte uns, vielleicht zweihundert Meter. Da begann der schwarze König zu wachsen. Er dehnte und reckte sich, wurde größer und größer, wuchs über den Rand der Grube hinaus, in die Wolken hinein – bis er den ganzen Himmel ausfüllte. Es war zu spät, um zu laufen. Meine Beine waren wieder festgewachsen. Ich sah zu ihm auf, sah seine tief liegenden Augen und sein eingefallenes Gesicht, sah seine ausgestreckte Hand – da hörte ich den Ruf meines Adlers, und das Bild des riesigen schwarzen Königs zerbrach. Er war genauso groß wie zuvor, er war nur ein paar Schritte näher gekommen. Und ehe er noch näher kommen konnte, stieß Rikikikri vom Himmel herab wie ein lebendes Geschoss.
Er flog genau auf den schwarzen König zu, die Krallen ausgestreckt, als wollte er einen Fisch fangen oder ein Kaninchen töten. Doch hier gab es keine Kaninchen.
Der schwarze König hob die Arme über den Kopf. Rikikikri streifte ihn und erhob sich wieder in die Luft, um erneut hinabzustürzen. Der Schrei des schwarzen Königs gellte durchdie Sandgrube und löste die Starre in meinen Beinen. Ich kletterte den Rand der Grube hinauf, so rasch ich konnte, und erst oben blieb ich stehen und drehte mich um.
Der schwarze König stand noch immer am gleichen Fleck, die Arme schützend über den Kopf erhoben, geduckt. Und Rikikikri flog noch immer seine Angriffe. Er warf sich mit solcher Gewalt aus der Luft, dass ich selbst beinahe Angst vor ihm bekam. Er stieß heisere, hohe Laute aus, während er wieder und wieder angriff, Laute voller Wut.
Er verteidigt sein Junges, dachte ich. Er verteidigt mich.
Und dann sah ich, wie der schwarze König auf die Knie fiel.
Ja, er fiel auf die Knie, die Arme noch immer über dem Kopf: hilflos, ausgeliefert, erniedrigt. Seine Macht war zu Staub zerfallen. Er kauerte am Boden, genau in der gleichen Stellung, in der ich so oft gekauert hatte. Damals, auf dem Hof, unter den Schlägen des Stricks. Rikikikris Krallen hatten das Hemd des schwarzen Königs zerfetzt, und ich sah einen blutigen Striemen dort auf seinem Rücken.
Mir wurde übel.
»Nein!«, schrie ich. »Rikikikri! Hör auf! Du bringst ihn um!«
»Und genau das wäre für ihn die richtige Art zu sterben«, sagte Olin. Sie stand neben mir am Rand der Sandgrube, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Du!«, schnaubte ich und machte einen Schritt von ihr weg. »Du weißt ja gar nichts! Du hast kein Recht, so etwas zu sagen! Du warst es nicht, die er geschlagen hat!«
»Nein«, sagte Olin. »Denn ich hätte mich gewehrt. Ich hätte mich nicht jahrelang …«
Da schlug ich sie. Ich holte weit aus und rammte ihr meine Faust ins Gesicht, und Olin schlug zurück. Ich taumelte und kniff die Augen zu, und als ich wieder dorthin sah, wo Olin eben noch gestanden hatte, war sie fort. An ihrem Platz saß Rikikikri und sah mich an. Ich ging in die Knie und streichelte seinen Kopf.
Dann sahen wir gemeinsam hinunter in die alte Sandgrube.
Der schwarze König lag zusammengekrümmt auf der Seite, den Kopf noch immer mit den Händen geschützt.
»Ist er tot?«, flüsterte ich.
Rikikikri antwortete nicht. Er erhob sich in die Luft und flog über den Wald davon, und ich folgte ihm.
Nach Berlin. Denn jetzt hatten wir es eilig fortzukommen, eiliger als je zuvor. Wenn der schwarze König tot war, würden die Polizisten denken, ich hätte ihn umgebracht. Hatte ich das?
Von jenem Tag an besaß ich kein Messer mehr und keine Angel. Nicht einmal eine Flasche, um Wasser hineinzufüllen. Der Rucksack lag noch immer auf dem Dachboden des Sandhofs. Ich ging tiefer und tiefer in die Wälder, obwohl das sicher schon wieder ein Umweg war. Mein Adler folgte mir. Er fing Fische für mich, die ich roh aß, weil ich nicht wagte, ein Feuer zu machen, aus Angst vor der Polizei. Olin blieb lange verschwunden.
An den Abenden stellte ich mir vor, wie ich eines Tages doch noch ankäme, und wie ich auf der Bettkante der weißen Königin saß und ihr alles erzählte. Vom Wald und Olin und dem Sandhof und unseren Abenteuern, den schönen und den schrecklichen. Und wie sie mich schließlich auf ihren Schoß bettete und mich mit ihren Worten zudeckte, den Worten eines Buches, das sie mir vorlas, bis ich in ihren Armen einschlief.
Die Blätter an den Bäumen des
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