Worte der weißen Königin
die Haut seiner Hände. Jetzt hob er den Kopf.
Und ich sah ihm in die Augen. Eingefallene Augen, die tief in ihren Lidern lagen, gerötete Augen mit einem dunklen Zentrum.
Es war der schwarze König.
12. Kapitel
Lion?
I ch überlegte, ob ich die Leiter umstoßen konnte. Doch jemand hatte sie vor langer Zeit in der oberen Luke festgenagelt. Diese Leiter war der einzige Weg nach unten. Ich machte ein paar Schritte rückwärts, von der Luke weg. Die Luke ließ sich nicht verschließen.
»Lion?«, rief der schwarze König. Seine Stimme klang alt und heiser.
Ich sah mich um. Ich durfte meine Beine nicht festwachsen lassen. Ich durfte nicht aufhören zu denken. Im Fenster saß noch immer Rikikikri. Die Fenster. Die Fenster waren der einzige andere Weg ins Freie. Doch ich befand mich im zweiten Stock. Wie ich in diesem Moment wünschte, ich hätte einfach auf Rikikikris Rücken klettern können, und er hätte mich davongetragen! Doch trotz seiner riesigen Schwingen war ich dazu zu schwer. Meine Augen fanden den Müllhaufen in der Ecke, und ich merkte, dass Olin dort stand. Sie hielt etwas in der Hand.
Einen Strick.
Sie hielt ihn mir entgegen. »Einen hast du vergessen wegzuwerfen«, sagte sie. »Hier.«
Ich begriff nicht. Stand Olin auf der Seite des schwarzen Königs?
»Du Dummkopf!«, zischte sie. »Beeil dich! Du musst dich abseilen. Los!«
Da rannte ich quer über den Dachboden auf sie zu und griff mir den Strick. Er fühlte sich so lebendig an wie die anderen Stricke auch, gefährlich, als würde er sich losreißen, um sich ganz von selbst in die Hände des schwarzen Königs zu legen. Ich zwang mich, ihn nicht fallen zu lassen, und knotete ihn an einem Balken beim nächsten Fenster fest.
Der schwarze König kam jetzt durch die Luke.
Und ich tat, was Olin mir befohlen hatte: Ich kletterte aus dem Fenster und seilte mich ab, die Füße an der Wand, mit beiden Händen den Strick umklammernd. Rikikikri war aufgeflogen und beobachtete mich aus der Luft.
Über mir beugte sich der schwarze König aus dem winzigen Fenster.
»Lion!«, rief er noch einmal. Mehr nicht. Als wären ihm die Worte ausgegangen. Er streckte die Hände nach dem Strick aus, und ich dachte, er würde mich hinaufziehen wie einen Fisch aus dem Wasser. Doch er zögerte. Er schien den Strick nicht berühren zu wollen, genau wie ich.
Ich kletterte weiter hinunter, und irgendwann hörte der Strick auf. Unter mir lagen eineinhalb Stockwerke freier Fall. Ich dachte an die Klippen. An das Wasser, das mich aufgefangen hatte. Hier war kein Wasser. Ich ließ das Ende des Stricks los und fiel.
Ich hörte meinen Adler schreien. Ich selbst schrie nicht, alsich auf dem Boden aufkam. Ich landete auf allen vieren wie eine Katze, stand auf und schüttelte mich. Meine Kniegelenke schmerzten, meine Fußsohlen brannten, aber ich hatte es geschafft.
Oben sah der schwarze König für Sekunden aus dem Fenster – dann verschwand er, und ich wusste, dass er die Leitern wieder hinunterkletterte.
»Lauf!«, sagte ich laut zu mir selbst, so wie Olin es gesagt hatte, und ich gehorchte mir. Ich lief. Ich lief zwischen den Sandhofgebäuden hindurch, ich lief in den Wald, ich lief schneller als je zuvor, schneller noch als bei der Jagd. In meinem Kopf liefen die Gedanken.
Ich dachte: Wenn ich so schnell laufe, dass es nicht mehr schneller geht, hebe ich ab und fliege. Ich dachte: Was geschieht, wenn der schwarze König Olin sieht? Wird er sie erkennen? Er wird sie erkennen, sie sieht beinahe genauso aus wie ich. Ich dachte: Ich höre seine Schritte. Er ist hier, ganz nah. Er holt auf. Er sieht schlecht aus, krank und abgemagert, aber er holt auf. Ich dachte: Vielleicht sieht er so schlecht aus, weil ich nicht mehr da bin. Vielleicht ernährt sich der schwarze König gar nicht von Dosenravioli, und deshalb standen sie verschimmelt in der Küche, damals. Vielleicht ernährt er sich von meiner Angst und meinen Schmerzen.
Ich weiß nicht, wie es kam, dass ich bei der alten Sandgrube herauskam. Ich hatte zu viele irre Gedanken gedacht und zu wenig darüber nachgedacht, wohin ich rannte. Ich konnte nicht mehr anhalten, ich stolperte und fiel über den Rand der Sandgrube, kugelte den Abhang hinunter und blieb untenkeuchend liegen. Die Sandgrube war nicht tief. Aber sie hatte mich gestoppt, und dadurch war sie tödlich.
Ich warf mich herum, kam auf die Beine – und sah den schwarzen König oben an ihrem Rand stehen.
»Lion«, sagte er wieder. Dann begann er, in die
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