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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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ja …«
    Sie verschwand mit dem Telefon nach drinnen, und auf einmal zwang die Müdigkeit der letzten Nacht mich in die Knie. Er würde es schaffen, hatte sie gesagt. Ein paar Tage. Rikikikri würde nicht sterben. Ich merkte nicht einmal, dass ich auf den Boden kippte, denn da schlief ich schon.
    Während ich darauf wartete, dass Rikikikri gesund wurde, blieb der Dachboden des Schuppens mein Nachtlager. Ich wanderte tagsüber weite Strecken durch den Wald, doch ich kehrte jeden Abend zurück zum Haus mit den Weinranken. Ich begann, es das Rankenhaus zu nennen und den Schuppen den Efeuschuppen, und ich dachte, diese Worte hätten der weißen Königin gefallen. Jeden Morgen kam die Frau mit dem blauen Kittel auf die Veranda und telefonierte, und ich fand nie heraus, mit wem sie telefonierte, aber sie sprach immer so laut, dass ich es hörte. Und so erwachte ich an den meisten Tagen, um zu erfahren, dass es Rikikikri ein wenig besser ging. Dann streichelte ich die große Feder, die ich von ihm besaß, als wäre er es selbst.
    »Halte durch!«, flüsterte ich. »Bald darfst du wieder durch den Himmel fliegen und auf dem Wind schweben. Bald gehen wir weiter!«
    Im Wald gab es Himbeeren und Brombeeren, aber kein Mensch kann von Brombeeren leben, und so begann ich, wieder die Abfälle anderer Leute zu durchwühlen. Diesmal waren es die Abfälle der Tierärztin. Ganz hinten in einer verborgenen Ecke ihres schönen, wilden Herbstgartens fand ich ihren Kompost.
    Die Tierärztin schien nicht sehr auf ihre Umgebung zu achten, denn sie merkte nicht, dass ich den Kompost durchsuchte oder dass ich in ihrem Schuppen wohnte. Wenn die Leute vor dem Haus parkten und ihre Tiere zu ihr brachten, war ich meistens im Wald unterwegs, aber manchmal war ich da, und manchmal brachten die Leute Hunde, und dann lag ich still auf dem Schuppendach und versuchte, keine Angst zu haben. Hunde riechen Angst.
    Einmal bellte ein großer schwarzer Hund sehr, sehr lange unten vor dem Schuppen, und ich hörte die Tierärztin beruhigend auf ihn einreden.
    »Komm, komm«, sagte sie. »Dort ist nichts und niemand. Glaubst du denn, jemand wohnt auf meinem Schuppendachboden? Dummer Hund! Komm weg da.«
    Oh, wie sie sich täuschte! Sie war überhaupt eine merkwürdige Person, denn sie warf auch merkwürdige Dinge weg. Oder sie kochte immer zu viel. Einmal fand ich ein Stück Pizza auf dem Kompost, das völlig frisch zu sein schien, ein andermal ein halbes Brot, und dann lag eine ganze Wurst darauf, aber in einer Plastiktüte. Der Fuchs hatte in der Nacht schon versucht, die Tüte durchzubeißen, es aber nicht geschafft.
    Als ich mich an diesem Abend auf dem Dachboden des Efeuschuppens in die Wolldecke wickelte, die ich vor zwei Tagen unten im Schuppen gefunden hatte, geschah etwas Seltsames. Ich sah wieder Olins Spiegelbild.
    Es sah mich aus der Scheibe des winzigen Fensters heraus an, und zuerst dachte ich, es wäre mein Spiegelbild, genau wie damals, als ich sie zuallererst gesehen hatte. Diesmal war es tatsächlich nur ein Bild, sie saß nicht draußen auf einem Fensterbrett. Das Schuppenfenster hatte kein Fensterbrett, sie konnte nicht dort sitzen. Im Schuppen war es ein wenig heller als draußen, denn ich hatte auch eine Kerze im Schuppen gefunden und ein altes Feuerzeug.
    »Olin?«, flüsterte ich.
    »Sieh mal einer an, du hast mich noch nicht vergessen«, sagte Olin.
    »Bist du wirklich da?«
    »Das kommt darauf an«, sagte Olin. »Die Frage ist eher: Bist du wirklich da, wo du sein solltest?«
    »Mehr als je zuvor«, antwortete ich. »Ich habe ein Dach über dem Kopf und beinahe keinen Hunger mehr, und Rikikikri wird wieder gesund. Komm aus dem dummen Fenster raus, wie immer du da reingekommen bist, und teil die Wurst mit mir.«
    »Wurst«, sagte Olin, »so, so. Und du denkst ab und zu an die Fuchsköder, ja?«
    »An die Fuchsköder?« Ich sah die Wurst an, von der ich schon ein gutes Stück gegessen hatte. »Du glaubst, sie legt Fuchsköder auf ihren Kompost? Was soll sie gegen den Fuchs haben?«
    »Oh, ich dachte nicht an den Fuchs«, sagte Olin.
    In diesem Moment erlosch die Kerze, weil sie ganz heruntergebrannt war. Ich öffnete das Fenster, nur um sicherzugehen, dass es kein Fensterbrett hatte. Es hatte keins. Ich war allein, allein mit der Dunkelheit und einer angebissenen Wurst. Ich aß sie nicht zu Ende.
    Als ich in der Morgendämmerung aus dem Fenster sah, saß mein Adler auf der Veranda des Rankenhauses. Er saß da und sah sich um, als wäre

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