Worte der weißen Königin
Worte …« Aber ich konnte es nicht erklären. »Gehen wir«, sagte ich müde. »Gehen wir endlich nach Berlin. Es wird Zeit. Es ist vielleicht sogar schon September …«
Und da fiel mir plötzlich etwas ein.
»Mein Geburtstag!«, rief ich. »Ich habe meinen Geburtstag vergessen! Ich hatte am zweiten August Geburtstag! Ich bin nicht mehr zehn, ich bin elf!«
»Und?«, fragte Olin ungeduldig.
»Geburtstage muss man feiern«, erklärte ich entschlossen. »Egal, wie alles ist, gut oder schlecht. Egal, wie eilig man es hat, irgendwohin oder von irgendwo wegzukommen. Man muss etwas geschenkt bekommen. Wir können den Sandhof verlassen, nachdem wir Geburtstag gefeiert haben.«
Mein Adler schüttelte sein Gefieder und flog auf, flog davon, wohl, weil er das Prinzip von Geburtstagen nicht verstand.Aber von ganz oben, aus dem Himmel, segelte eine große Feder herab und landete zu meinen Füßen. Ich dachte an die Federsammlung über meinem Bett im Haus des schwarzen Königs.
»Danke«, sagte ich. »Das ist eine wunderschöne Feder. Ich glaube, eine so große habe ich noch nie besessen.«
Ich wollte Olin erzählen, wie mir mein Vater früher Dinge zum Geburtstag geschenkt hatte, einmal einen Füller und einmal einen richtigen Kuchen.
Aber es machte mich ein bisschen traurig, und so ließ ich es.
Und dann machten wir ein Geburtstagsfeuer beim Sandhof, ein Feuer, das viel größer war als alle Feuer, auf denen wir bisher Fische gebraten hatten. Wir teilten die Schokolade, die Malin mir gegeben hatte, und ich steckte eine Kette aus lauter Wiesenblumen zusammen, als Geschenk für Olin. Sie sagte, sie wisse nicht, wann ihr eigener Geburtstag sei, und da beschloss ich, dass er einfach auch heute war.
Olin kicherte und legte die Blumenkette um ihre Stirn, und wir tanzten ums Feuer, bis uns schwindelig war. Es brannte noch, als der Abend kam, es brannte bis in die Dämmerung, riesig und lodernd.
Der ganze Tag war irgendwie an uns vorbeigeglitten, ein bunter, schöner, wunderbarer Tag. Und ich wusste, dass wir längst hätten unterwegs sein sollen in Richtung Berlin, aber irgendwie war es nicht geschehen.
Morgen, dachte ich wieder, morgen.
»Mit der Blumenkette siehst du tatsächlich aus wie einMädchen«, sagte ich zu Olin, als wir müde neben dem Feuer im Gras lagen. »Deine Haare sind ganz lang geworden.«
»Guck dich mal selber an«, sagte Olin. »Deine sind genauso lang.« Sie nahm die Blumenkette ab und ließ sie durch ihre Finger gleiten. »Danke«, flüsterte sie. »Danke, Lion. Ich habe noch nie vorher ein Geschenk bekommen. Ich begreife den Sinn von Geburtstagen nicht ganz, aber sie sind schön.«
»Na, man feiert, weil man sich freut, am Leben zu sein«, sagte ich und drückte ihre Hand.
»Aber wenn man das nicht wäre«, sagte Olin leise, »hätte man eine Menge Probleme weniger, oder?«
Es war ganz dunkel geworden, und die Sternbilder sahen alle aus wie Seeadler. Wir ließen das Feuer ausgehen.
»Was ist eigentlich, wenn man aufhört, am Leben zu sein?«, wisperte ich. »Wenn man sich in Berlin verläuft und es Winter wird und man erfriert oder verhungert? Oder wenn man sehr alt ist und krank und einfach in einem Krankenhaus einschläft?«
Olin drückte meine Hand zurück. »Ach«, sagte sie leichthin, »dann fliegt man, nehme ich an. Mit den Adlern.«
Vielleicht war es das Geburtstagsfeuer, das man vom Dorf aus gesehen hatte. Oder der Mann mit der Angel, der mich doch entdeckt hatte. Oder Malin mit dem blauen Kleid. Oder alles zusammen.
Am nächsten Morgen erwachte ich vom Warnruf der Seeadler: »Aararak! Aarak!«
Jenem Ruf, der Aarak ihren Namen eingebracht hatte, jenemRuf, den Seeadler benutzen, wenn sie ihre Jungen im Nest in Gefahr glauben. Es war Rikikikri, der rief; er saß in einem der glaslosen Fenster und schrie mir seine Warnung zu. Ich war mit einem Satz bei ihm und sah hinaus. Unten vor dem Sandhof, am Ende des unbenutzten Weges, stand ein Auto auf dem Gras. Ein silbernes Auto mit grünen Streifen. Die Türen des Autos waren offen, und daneben standen zwei Polizisten und rauchten.
Rikikikri stieß noch einmal seinen Warnschrei aus. Und als er diesmal verklang, hörte ich, dass jemand über die Leitern zum Dachboden heraufkam.
Ich sah durch die Luke hinunter. Es war kein Polizist, der dort die Leiter hochkletterte. Es war ein großer hagerer Mann, den ich noch nie gesehen hatte; die Knöchel an seinen Fingern auf den Leitersprossen traten weiß hervor, und man sah die Knochen durch
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