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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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das Besteck richtig zu halten. Aber zum Glück konnte ich es noch. Rikikikri saß auf einem freien Stuhl und fraß einen rohen Fisch.
    »Morgen gehen wir wieder«, sagte ich zwischen zwei Bissen. »Es ist sehr schön hier bei Ihnen, aber wir müssen weiter.«
    Da sah die Tierärztin plötzlich besorgt aus. »Wohin denn?«, fragte sie.
    »Nach überall und nirgendwo«, antwortete ich. Weil es vielleicht gefährlich sein konnte, ihr die Wahrheit zu sagen. Und dann sagte ich: »Nach Berlin. Zu einem Krankenhaus.« Weil es vielleicht doch besser war, die Wahrheit zu sagen. Weil es doch sein konnte, dass sie mir helfen würde, dorthin zu kommen. »Ich muss jemanden finden dort.«
    »In Berlin …«, sagte die Tierärztin nachdenklich, »ja, da gibt es wohl eine ganze Menge Krankenhäuser. Vielleicht kannst du mir das etwas genauer erklären?«
    Ich zögerte und drehte das leere Saftglas in meinen Händen. Was sollte ich ihr erklären?
    »Ach, der Saft ist schon alle«, sagte die Tierärztin. »Mit mehr Saft kann man wohl besser erklären. Und ich brauche noch ein paar mehr Nudeln. Wie wäre es, wenn ich die Nudeln hole und du den Saft? Vor dem Bad, die Treppe, die führt zum Keller. Da steht ein Kasten mit Saftflaschen, gleich im ersten Kellerraum.«
    Ich nickte. Als ich die Treppe hinunterging, dachte ich, die Tierärztin würde mir bestimmt helfen. Und ich würde die weiße Königin jetzt finden, ganz bald. Wenn ich sie fand, würde ich der Tierärztin die Feder von Rikikikri schenken, zum Dank. Die ganz große …
    »Lion?«, rief die Tierärztin von oben. »Der Lichtschalter ist der linke, der rechte geht nicht!«
    Ich drückte auf den linken Schalter und öffnete die Kellertür. Dann bückte ich mich nach der Kiste mit den Flaschen. Es gab mehrere Sorten – Orange und Multivitamin und Waldfrucht, und ich überlegte eine Weile, welchen Saft ich nehmen sollte. Es wäre sicher für lange Zeit das letzte Mal, dass ich Saft trinken würde. Die Worte der Tierärztin tanzten durch meinen Kopf, während ich überlegte, belanglose, freundliche Worte:
    »… noch ein paar mehr Nudeln … vor dem Bad, die Treppe … Lion? Der Lichtschalter links …«
    Moment. Ich richtete mich auf, eine Saftflasche in der Hand. Lion? Ich hatte der Tierärztin meinen Namen nicht gesagt. Die Kellertür war zugefallen. Ich griff nach der Klinke. Die Tür ließ sich nicht öffnen.

13. Kapitel
    Verstricke dich nur nicht zu sehr
    U nd dann brannte mit einem winzigen Sirren die Glühbirne durch. Ich stand im Dunkeln.
    Nur hinter mir drang etwas Licht durch ein kleines Kellerfenster. Ich ließ die Saftflasche fallen und hörte sie auf dem Boden zerbrechen, während ich zum Fenster hinüberrannte. Das Fenster war vergittert. Davor, draußen in der Abenddämmerung, kauerte Olin.
    Sie schüttelte stumm den Kopf, und ich erinnerte mich, wie sie auf dem Schuppendach meines Vaters gesessen und genauso den Kopf geschüttelt hatte. Damals, nach meiner ersten Begegnung mit dem Strick.
    »Warum bist du nicht weggelaufen?«, hatte sie gefragt.
    Jetzt fragte sie nichts.
    Warum war ich nicht weggelaufen? Warum war ich der Tierärztin in die Falle gegangen?
    Ich drehte mich im Kreis, um einen Ausweg zu finden, doch ich fand nur die Dunkelheit und den Kellergeruch, und plötzlich wusste ich nicht mehr, wo ich war. Oder wann. Plötzlich war ich wieder im Keller des schwarzen Königs. Tausend Meilen weit entfernt von der Freiheit des Himmels überdem Wald. Hier unten konnte mir mein Adler nicht mehr helfen.
    »Nein!«, hörte ich mich schreien. »Neeein!«
    Und ich merkte, wie ich mit den Fäusten das Fensterglas zertrümmerte. Wie ich an dem Gitter rüttelte, das sich nicht lösen ließ. Wie ich nach einer weiteren Saftflasche griff und sie im Kreis um mich schwang. Ich hörte Dinge von Regalen fallen, ich hörte Glas brechen, ich hörte Regale umstürzen. Und die ganze Zeit über brüllte ich nur das eine Wort.
    »Neeein!«
    Ich würde mich nicht mehr ducken, dachte ich, nie wieder, ich würde mich wehren, so wie Olin es gewollt hatte. Ich würde dieses Gefängnis zum Einsturz bringen. Der Hals der Saftflasche entglitt mir, ich bückte mich und griff in Scherben. An meinen Händen war Blut. Und das machte alles noch schlimmer. Als ich mich wieder aufrichtete, stand der schwarze König neben mir in der Dunkelheit. Ich wusste nicht, wo er sich bis eben versteckt hatte, aber er war es, eindeutig. Ich konnte seine Nähe spüren. Ich roch den Schnaps in seinem

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