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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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und ich folgte seinem Blick. Da entdeckte ich im grünen Meer der Blätter etwas, das ich vorher nicht bemerkt hatte. Etwas Großes, annähernd Rundes aus trockenen Ästen.
    »Ein Horst«, wisperte ich. »Es ist ein Adlerhorst! Vielleicht steht er leer …«
    Rikikikri blickte jetzt mit seinen gelben Augen zum Himmel, und wieder folgte ich seinem Blick. Dort, hoch oben, schwebten zwei riesige Vögel mit kantigen Schwingen.
    »Seeadler«, sagte ich. »Ihnen gehört der Horst, nicht wahr? Dies ist ihr Revier.«
    Die Adler ließen sich jetzt sinken, flogen hin und her über den Wald, ihren Wald, und kamen immer näher, und als sie ganz nahe waren, sah ich die zerzausten Schwingen des größeren Adlers.
    »Er ist alt«, sagte ich. »Vielleicht war dies sein letzter Sommer.«
    Ich dachte daran, wie ich Rikikikri mit verletztem Flügel gefunden hatte und dass er damals vielleicht um sein Revier gekämpft hatte. Er hatte eine Zeit lang seine Freiheit verloren, während ich ihn gepflegt hatte. Aber er hatte ein Revier gewonnen – und einen Freund.
    Er sah mich an. Seine gelben Augen blitzten.
    »Du kannst es«, flüsterte ich. »Du kannst ihn besiegen. Und dann können wir hierbleiben, bei dem Horst, bis ich gesund bin. Der alte Adler hatte viele gute Sommer, zehn oder zwanzig. Aber wir, wir beide, wir hatten erst einen Sommer. Und es war kein besonders guter.«
    Mein Adler zögerte.
    »Bitte«, sagte ich, »tu es für mich. Ich bin krank, Olin hat recht. Ich kann nicht mehr weitergehen.«
    Da breitete Rikikikri seine Schwingen aus und stieg in die Luft, und er stieß einen Ruf aus, den ich noch nie gehört hatte und den ich nicht aufschreiben kann. Einen durchdringenden, unmelodischen Ruf, einen Kampfschrei, der sagte: Ich will nicht kämpfen.
    Aber er kämpfte – er kämpfte für mich.
    Der alte Adler war vollkommen überrascht von seinem Angriff. Kein Seeadler rechnet im Herbst damit, dass ein jüngererin sein Revier eindringt, und so hatte Rikikikri zu Beginn einen Vorteil. Ich sah, wie das Adlerweibchen auf dem Horst landete, um dem Kampf zuzusehen, und es war ein seltsames Gefühl – hier ich und dort sie, und obwohl ich alle Seeadler liebte, waren wir plötzlich Feinde geworden.
    Die beiden Adler umkreisten sich eine Weile, schließlich stießen sie in der Luft aufeinander, und die Federn stoben nach allen Seiten. Sie ließen wieder voneinander ab, trafen sich erneut, die Krallen ausgestreckt, und ich sah den Ring am linken Fuß meines Adlers im Sonnenlicht blitzen. Es war ein seltsames Licht, rötlich wie Blut in Wasser. Ein zersplittertes, zerfetztes Chaos aus Wolken bedeckte den Himmel, durch die das Licht auf gefährliche Weise hindurchquoll. Es war seltsam windstill.
    Dann hörte ich meinen Adler noch einmal schreien. Gleichzeitig fegte ein eisiger Windstoß durch den Wald. Und als ich ihn in meinem Gesicht spürte, wusste ich: Dies war der erste Windstoß eines Orkans.
    Ich sah meinen Adler in der Luft taumeln. Ich sah, wie er nicht mehr angriff, sondern angegriffen wurde.
    Mir war plötzlich kalt. Ich wand mich wieder in meine Kleider, während der Wind die Äste der Esche bog. Ich klammerte mich in den Zweigen fest, und je stärker der Wind wurde, desto deutlicher sah ich, dass Rikikikri diesen Kampf nicht gewinnen würde. Der andere Adler war alt, doch er war erfahren, und er hatte in seinen vielen guten Sommern nichts von seiner Kraft eingebüßt.
    »Rikikikri!«, rief ich. »Komm zurück!«
    Doch ich wusste, dass es kein Zurück gab. Der alte Adler würde nicht ruhen, ehe er Rikikikri aus seinem Wald vertrieben hatte. Und mein Adler ließ sich nicht vertreiben, solange ich in diesem Wald auf einer Esche saß und fieberte.
    »Flieg weg!«, schrie ich, so laut ich konnte. »Flieeeg! Vergiss mich! Ich komme schon klar! Fliiiieh!«
    Und ich hustete mir die Seele halb aus dem Leib bei jedem Satz. Die Blätter, mit denen der Sturm warf, flogen um mich wie Regen, es war, als risse dieser Sturm die Blätter des ganzen Waldes auf einmal aus.
    Sie peitschten mein Gesicht wie … nein, und ich weigerte mich, schon wieder so etwas zu denken. Ich hörte Äste brechen, während die Adler kämpften. Ich sah Bäume umknicken. Ich spürte das Stöhnen, das durchs Holz der Esche lief.
    Dann segelte eine einzige große Feder vom gefährlich roten Himmel, segelte genau auf mich zu, und ich streckte eine Hand aus und fing sie. Es war eine Feder von Rikikikri, ich war mir sicher. Sie war blutig.
    In diesem Moment

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