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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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anzukommen?
    Es wären immer die gleichen Worte, mit denen ich unsere Tage beschreiben müsste, Worte wie lauschend und geduckt , Worte wie Hakenschlagen und Umwege und Regen und Hunger und Durst . Die Tage fielen mit dem Laub von den Bäumen, und der September wurde stürmisch. Ich begann zu niesen und zu husten.
    Vielleicht hatte ich nicht nur den schwarzen König umgebracht, sondern auch die Tierärztin. Vielleicht war ich ein Mörder.
    Die weiße Königin schien weiter fortgerückt als je zuvor.
    Wenn ich nur hätte ankommen können – einfach mit den Fingern schnipsen und bei ihr sein! Wenn sie mich nur in ihre Arme genommen und gesagt hätte: »Sorge dich nicht mehr, Lion, der schwarze König lebt. Aber er sitzt jetzt im Gefängnis. Und der Tierärztin ist nichts Schlimmes geschehen. Du wirst jetzt duschen, Lion, und schlafen, und ich rufe sie an, denn zufällig kenne ich sie und weiß, dass sie lebt. Ich habe ihr gesagt, dass du ihr nicht wehtun wolltest.«
    Denn es tat mir leid, dass ich der Tierärztin wehgetan hatte, wirklich.
    »Wenn sie gestorben ist«, sagte ich eines Tages zu Olin, »das wäre so schrecklich! Je mehr ich versuche freizukommen, desto mehr verstricke und verheddere ich mich.«
    »Verstricke dich nur nicht zu sehr«, sagte Olin. Sie saß mit mir auf einer großen alten Esche im Wald, die mich an Rikikikris Esche erinnerte. Wir waren wieder an der Bahnlinie gelandet, ich sah die Schienen in der Ferne.
    Wenn ich die Schienen zu lange ansah, verschwammen sie vor meinen Augen. Mir war ein wenig schwindelig und merkwürdig heiß. Auch der Husten war nicht besser geworden.
    »Wenn ich ankomme«, sagte ich, »wenn ich irgendwann am Ende dieser Schienen ankomme, in Berlin, und das Krankenhaus finde … es wird so gut sein, nicht mehr jeden Tag wandern zu müssen. Meine Beine wollen nicht mehr gehen. Ich weiß, du glaubst, ich hätte mir die weiße Königin nur ausgedacht … aber, Olin, es wird so wunderbar sein, bei ihr anzukommen! Ich werde mich einfach neben ihr in das Krankenhausbett legen,ganz nah, und es wird warm sein bei ihr, warm vom Licht in den Büchern, die sie vorgelesen hat …«
    Ich wollte noch mehr sagen, aber in diesem Moment schüttelte mich ein Hustenanfall. Olin musste lange warten, bis ich zu Ende gehustet hatte.
    »Du glaubst also immer noch, dass du bei ihr ankommen wirst«, sagte sie schließlich. »So krank, wie du bist.«
    »Ich bin nicht krank«, sagte ich und hustete weiter. Sie hatte natürlich recht.
    An diesem Tag hatte ich meine Füße so schleppend voreinander gesetzt wie eine alte Frau. Beinahe hätte ich es nicht geschafft, überhaupt auf die Esche zu klettern, Olin hatte mir helfen müssen.
    »Sieh es ein, du kommst zurzeit nicht schneller voran als eine Nacktschnecke«, sagte Olin. »Vergiss die weiße Königin, Lion. Du bringst dich noch mal um bei dem Versuch, sie zu erreichen.«
    »Aber ich brauche ihre Worte«, flüsterte ich, den Husten unterdrückend. »Ich sehne mich so nach ihr!«
    »Es ist Herbst«, sagte Olin. »Die Worte deiner Königin sind längst verblüht. Sie hat dir nie geholfen, oder hat sie das? Sie ist auch nur eine von denen, die ein Dach über dem Kopf haben und Geld und genug zu essen, im Gegensatz zu dir. Denk an all diese Leute, die im Warmen sitzen und es gut haben, Lion! Denk an sie, und sag mir, was du fühlst.«
    »Ich hasse sie«, sagte ich. »Ich hasse sie von ganzem Herzen.«
    »Das ist gut«, sagte Olin, »denn Hass macht warm. Er wirddich wärmen, wenn du heute Nacht frierst, und wenn es regnet und stürmt, wird er sein wie ein Mantel. Viel besser als irgendwelche Worte.«
    In dieser Nacht schlief ich in den Ästen einer großen alten Esche, und ich dachte, wie gut es wäre, dort einen Adlerhorst zu haben. Rikikikri schien dasselbe zu denken. Ich spürte, dass auch er keine Kraft mehr zum Wandern hatte.
    Ich blieb in den Ästen, als die Sonne aufging. Ich blieb dort und hustete mir die Seele aus dem Leib, und jetzt schwitzte ich, statt zu frieren, so sehr, dass ich den alten Pullover auszog, den wir im Müll gefunden hatten, und das zerfetzte Hemd abstreifte. Schließlich saß ich halb nackt in der Esche. Mein Adler landete neben mir und schien sich zu wundern.
    »Ich verglühe«, erklärte ich ihm. »Das ist der Hass, den Olin mir eingeredet hat. Es ist zu viel. Ich brenne, spürst du es? Wie ein Feuer.«
    »Riii«, sagte Rikikikri und schüttelte seine Federn. Er sah mich nicht an. Er sah über die Wipfel der Bäume,

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