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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Atem. Ich wusste, dass er die abgebrochene Flasche in der Hand hielt, die ich vergeblich gesucht hatte.
    »Wer stiehlt, wird bestraft«, hörte ich ihn sagen, in seiner gefährlich ruhigen Tonlage. »Was hast du alles gestohlen, seit du weggelaufen bist? Zuletzt das Essen der Tierärztin. Es ist Zeit, dass du bestraft wirst, Lion. Höchste Zeit.«
    Ich schlich mich seitlich an seiner Stimme vorbei bis dorthin, wo ich die Kiste mit den Flaschen vermutete. Ich fand sie sogar, mitten zwischen umgefallenen Kartons und weiterenScherben. Aber jetzt hatte ich mich wieder gebückt, und das war es, was der schwarze König wollte. Er war ganz plötzlich hinter mir, drückte mich mit einer Hand tiefer hinunter und zerriss mit der anderen das Hemd der Tierärztin. Ich hörte das Zischen der Flasche, als er damit ausholte. Meine Finger krallten sich um eine andere Flasche, eine heile Flasche in der Kiste, und als ich den schneidenden Schmerz auf meinem Rücken spürte, umklammerte ich sie, so fest ich konnte. Draußen kamen jetzt Schritte die Treppe herunter.
    Die Tierärztin. Ich dachte an ihr freundliches Gesicht und ihr wildes, welliges graues Haar. Aber sie war nicht freundlich. Sie war nie freundlich gewesen. Sie hatte mir eine Falle gestellt, sie hatte die ganze Zeit über gewusst, wer ich war. In ihrem Keller hatte der schwarze König auf mich gewartet.
    »Lion?«, rief sie. »Bist du da?«
    Der schwarze König schlug noch einmal zu, und ich spürte, wie warmes Blut meinen Rücken hinunterlief. Als er zum dritten Mal ausholte, zog ich die volle Saftflasche aus der Kiste, stand auf und wirbelte herum. Noch mehr Dinge fielen herunter, fielen durcheinander, zerbrachen, lärmend und polternd.
    »Was um alles in der Welt ist da los?«, fragte die Tierärztin draußen, und jetzt hörte ich Panik in ihrer Stimme. »Die Tür … sie klemmt manchmal …«
    Dann wurde die Tür von außen aufgerissen. Das war meine einzige Chance. Ich drehte mich nicht nach dem schwarzen König um. Ich wollte ihn nicht sehen. Ich schwang diese zweite volle Saftflasche, genau wie die erste. Sie war schwer, sie war eine gute Waffe.
    Ich traf die Tierärztin am Kopf und sah, wie sie zu Boden stürzte. Mit einem Satz sprang ich über sie, warf die Flasche weg und raste die Kellertreppe hinauf. Ich rannte durch den Flur, durch das Wohnzimmer, wo noch das Essen auf dem Tisch stand, über die Veranda, ins Freie. Dort holte ich einmal tief Luft und sah mich um. Niemand folgte mir. Das Haus war merkwürdig still.
    Ich rannte weiter, durch den Garten, um das Haus herum, in den Wald. Über mir hörte ich den Ruf meines Adlers. Die Luft auf meiner Haut war kalt und klar wie frisches Wasser. Ich rannte so lange, bis ich wirklich nicht mehr konnte, so lange, bis ich einfach hinfiel und liegen blieb. Der Duft des Herbstlaubs drang in meine Nase, und ich sah die Silhouetten der Bäume um mich aufragen. Es war beinahe ganz dunkel. Doch hier im Wald würde es nie, niemals so dunkel werden wie in einem Keller.
    Jemand strich mir über den Rücken, und ich zuckte zusammen. Es war Olin. An ihrem Finger klebte mein Blut.
    »Lion«, sagte sie und schüttelte wieder den Kopf, »was hast du nur getan?«
    »Er«, keuchte ich, »er hat es getan. Der schwarze König. Er war da. In dem Keller.«
    »Nein«, sagte Olin leise, »da war niemand. Da warst nur du. Du hast um dich geschlagen wie wild. Du hast dich selbst verletzt.«
    »Aber sie … sie hat mich eingesperrt«, sagte ich. Und auf einmal bekam ich Zweifel. »Hat sie mich eingesperrt?«
    Da nickte Olin. »Ich weiß nicht, ob die Kellertür wirklichklemmte. Ich weiß nur, dass sie versucht hat, dir deine Freiheit wegzunehmen. Sie hat versucht, dich zu zähmen. Sie wusste genau, wer du warst. Es ist gut, dass du ihr entkommen bist.«
    »Aber ich … ich habe sie mit der Flasche getroffen«, flüsterte ich.
    »Man muss sich wehren«, sagte Olin.
    Ich schluckte. »Ist sie tot? Sind sie alle tot? Der schwarze König und mein Vater und die Tierärztin?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Olin.
    Und dann ging sie im tiefen Waldschatten Kräuter pflücken, die nur sie kannte, und legte sie auf die Wunden, die ich mir selbst beigebracht hatte – wenn Olin die Wahrheit sagte. Rikikikri schlief wieder neben mir in dieser Nacht, die Schwingen über mich gebreitet. Dennoch fror ich in dem zerrissenen Hemd, ohne meinen Pullover. Der Herbst war plötzlich kalt geworden.
    Was nützt es zu erzählen, wie wir weiterwanderten, ohne

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