Wortstoffhof
schreibt mir Herr H. aus München, er habe kürzlich im ICE, aus Stuttgart kommend, neben seiner Freundin gesessen, als er folgende Ansage hörte: »Eine betrübliche Durchsage. Ich brauche einen Zugbegleiter in Waggon 12.«
H. schreibt, natürlich sei jedermann sofort klar, dass es »betriebliche Durchsage« heißen müsse. Aber aus irgendeinem Grunde hätten sowohl seine Freundin als auch er»betrüblich« verstanden und sich ausgemalt, was so betrüblich sein könne, dass man zu seiner Bewältigung einen Zugbegleiter brauche, ob eine Naturkatastrophe oder ein Terroranschlag sich ereignet habe und vielleicht Train-Marshalls auf diese Weise angefordert würden, um einen gemeingefährlichen Fahrgast zu überwältigen.
Jedenfalls scheint es so zu sein, dass wir unwillkürlich dem Zugpersonal eine gewisse Neigung zur Melancholie unterstellen, wenn wir statt »betrieblich« das Wort »betrüblich« hören. Wir hören quasi das Bedauern des Ansagenden mit, dass nun der Zugbegleiter den langen, beschwerlichen Weg durch den wackelnden und wankenden Zug anzutreten habe, bis hin zu Waggon 12, wo der Zugchef ihn gerne erwarte. Und wir spüren etwas von der Schwere des Dienstes, der an uns verrichtet wird.
Es ist einige Wochen her, da verkündete mir die Lautsprecherstimme im ICE nach Verlassen des Bahnhofs in A, der Zug habe einige Minuten Verspätung: »Diese wurde verursacht wegen Aufnahme von verspäteten Übergangsreisenden.«
Ach, allein das Wort »Übergangsreisender« … Ich las damals gerade das jüngste, von Sebastian Haffner posthum erschienene Buch Das Leben der Fußgänger , eine Sammlung seiner Feuilletons aus den dreißiger Jahren. Darin: ein Text über den »Mitreisenden«, jenes lästige Geschöpf, das einem im Zug die Fensterplätze wegnimmt, Gespräche aufdrängt, wenn man lesen will, und beim kleinsten Nickerchen schnarcht wie ein sterbender Wolfshund. Ich aber setze nun gegen den Mitden Übergangsreisenden: das gehetzte Geschöpf, das von einem Zug zum anderen eilt, schwitzend und voller Angst, den Anschluss zu verpassen, Zuglaufteilen hinterherlaufend, schuldlos verspätet, dadurch weitereVerspätungen verursachend. Der Übergangsreisende: grundlos geschunden, das Leben durchhastend. Ist nicht unsere ganze Existenz ein Übergang? Sind wir nicht alle im Grunde Übergangsreisende? Und was würde aus uns, gäbe es nicht immer wieder das Bahnpersonal, das uns »Aufnahme« gewährt?
Es wäre doch ein sehr betriebliches Leben.
ÜBERSCHRIFTEN
Hier fünf Zeitungsüberschriften, die ich nicht vergessen kann.
1.) Beckstein droht mit Flucht nach Berlin . So stand es im Oktober 2005 im Münchner Merkur . Es war nämlich so, dass Herr B., falls er nicht Ministerpräsident in Bayern werden konnte, in Bayern gar nichts mehr sein wollte. Er drohte, in diesem Fall sein Bundestagsmandat anzunehmen, woraus wir lernen, dass manche Leute, die für den Bundestag kandidieren, nicht unbedingt auch in den Bundestag wollen. Sie kandidieren halt, dann schau’n sie mal. Was man hat, das hat man, und etwas zum Drohen kann man immer brauchen. Auch Edmund Stoiber drohte ja damals: in diesem Fall allerdings sein Bundestagsmandat nicht anzunehmen, falls er nicht Wirtschaftsminister werden konnte (wenn nämlich die Koalitionsverhandlungen scheiterten). Er müsste dann Ministerpräsident bleiben, womit er auch drohte – aber wem? Der SPD? Der CSU? Dem bayerischen Volk? Schließlich sollte er dann, als es mit der Kabinettsbildung so weit war, tatsächlich sogar Superwirtschaftsminister werden, wollte es dann aber doch nicht mehr. Aber Ministerpräsident blieb er auch nicht.
Die Politik ist eine seltsame Welt. Und Überschriften sind manchmal tatsächlich irgendwie enthüllend.
2.) Schafbock fällt auf Simbacherin . Das las ich am 30. Juli 2001 in der Süddeutschen Zeitung über einer kleinen Meldung, in der berichtet wurde, ein Schafbock sei aus seiner Herde ausgerissen, auf der Flucht vor seinen Häschern aber in Panikgeraten und schließlich verwirrt von einer Eisenbahnbrücke gestürzt. Er fiel auf eine 31 Jahre alte Spaziergängerin, die schwere Prellungen und Blutergüsse erlitt, während der Schafbock starb. Es ist aber nicht das geradezu unglaubliche Ereignis, weswegen ich die Überschrift nicht vergesse, sondern wegen dieses Wortes »Simbacherin« – als sei die Tatsache, dass die vom Schafbock Getroffene aus Simbach stammte, von irgendeiner Bedeutung, als habe der Schafbock einige Münchnerinnen, Landsbergerinnen und
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