Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
Juli angekommen, und wie immer haben wir ein Apartment gemietet. Morgens, wenn es noch kühl ist, sitze ich am Schreibtisch und arbeite. Ich schreibe alles Mögliche, wie jetzt diesen Text über das Laufen. Es ist Sommer und daher ziemlich heiß. Hawaii wird häufig als Insel des ewigen Sommers bezeichnet, aber da es auf der nördlichen Halbkugel liegt, gibt es doch so etwas wie vier Jahreszeiten. Der Sommer ist heißer als der Winter. Verglichen mit der feuchten Hitze in Cambridge, Massachusetts, zwischen all den Backsteinen und dem Beton fühlt man sich hier allerdings wie im Paradies. Man braucht keine Klimaanlage, muss nur das Fenster öffnen und eine erfrischende Brise weht von allein ins Haus. Meine Bekannten in Cambridge sind immer ganz verblüfft, dass ich im August nach Hawaii fliege. »Warum verbringst du den Sommer an so einem heißen Ort?«, rufen sie aus, denn sie wissen nicht, dass die Sommer dort durch die beständigen Passatwinde aus dem Nordosten kühl sind. Und auch nicht, wie heiter das Leben hier ist, wo man die Muße hat, im Schatten der Bäume zu lesen oder, sooft man Lust dazu verspürt, ein Bad in der Bucht zu nehmen.
Seit meiner Ankunft habe ich es an kaum einem Tag versäumt, etwa eine Stunde zu laufen. Diesen mir von früher vertrauten Lebensstil führe ich nun seit zweieinhalb Monaten wieder. Ich setze nur aus, wenn es wirklich unvermeidlich ist. Heute bin ich eine Stunde und zehn Minuten gelaufen und habe dabei zwei Alben von The Lovin’ Spoonful auf meinem Walkman gehört: Day Dream und Hums of the Lovin’ Spoonful , die ich auf MD -Disc aufgenommen hatte.
Da ich vorläufig dabei bin, meine Distanzen zu steigern, spielt die Zeit noch keine so große Rolle. Es kommt mir allein darauf an, eine bestimmte Strecke zu schaffen. Wenn ich mein Pensum schneller absolvieren möchte, lege ich auch schon mal einen Spurt ein, aber wenn ich das Tempo erhöhe, verkürze ich auch die Laufzeit. Jedenfalls kommt es mir darauf an, das Wohlbefinden, das ich am Ende jedes Laufs empfinde, auf den nächsten Tag zu übertragen. Den gleichen Trick wende ich an, wenn ich an einem Roman schreibe. Ich höre stets an einem Punkt auf, an dem ich das Gefühl habe, ich könnte eigentlich noch weiterschreiben. Dann geht mir die Arbeit am nächsten Tag erstaunlich gut von der Hand. Ich glaube, Ernest Hemingway hat einmal etwas Ähnliches gesagt. Um weitermachen zu können, muss man einen Rhythmus einhalten. Dies ist ein wichtiger Faktor bei langfristigen Projekten. Sobald man sein Tempo gefunden hat, ergibt sich der Rest ganz automatisch. Aber bis das Schwungrad anfängt, sich in einer bestimmten Geschwindigkeit zu drehen, kann man nicht genug auf die Einhaltung eines bestimmten Ablaufs achten.
Während ich lief, geriet ich in einen kurzen Schauer, der angenehm kühlend wirkte. Eine dicke Wolke zog vom Meer herüber, bedeckte den Himmel, und ein leichter Regen fiel. Dann verschwand sie, ohne sich noch einmal umzuwenden, als sei ihr etwas Dringendes eingefallen, und wieder strahlte erbarmungslos die sengende Sonne herab. Hier herrscht ein sehr leicht verständliches Klima, das nichts Unheimliches oder Zweideutiges hat, nichts Symbolisches oder Metaphorisches. Unterwegs begegnete ich mehreren Joggern, die Anzahl der Männer und Frauen hielt sich ungefähr die Waage. Die Sportlichen trabten leichtfüßig über den Boden und durchschnitten den Wind, als wären ihnen Räuber auf den Fersen. Daneben gab es die Übergewichtigen, die sich mit halbgeschlossenen Augen und lustlos hängenden Schultern schnaufend dahinschleppten. Manch einem hatte vermutlich der Arzt vor einer Woche gesagt, er habe Zucker und müsse sich Bewegung verschaffen. Ich bin irgendwo dazwischen.
The Lovin’ Spoonful kann ich immer wieder hören. Ihre Musik ist entspannt und nie unecht. Ihr weicher Sound ruft viele Erinnerungen an die Mitte der sechziger Jahre in mir wach. Nichts Weltbewegendes. Würde man einen Film über mein Leben drehen (allein bei dem Gedanken graust mir), wären das die Szenen, die herausgeschnitten würden. »Auf die Episode können wir verzichten, sie ist nicht gerade schlecht, aber zu alltäglich.« Mir hingegen bedeuten diese Erinnerungen viel, und wahrscheinlich lächele ich dabei oder runzele die Stirn, ohne es zu merken. So unerheblich sie auch sein mögen – sie sind da, hier und jetzt an der Nordküste von Kauai. Wenn ich mir mein bisheriges Leben vor Augen führe, habe ich mitunter das Gefühl, nicht mehr zu sein als
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