Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
komponierte den größten Teil seiner 555 Klaviersonaten zwischen seinem siebenundfünfzigsten und zweiundsechzigsten Lebensjahr.)
Meinen läuferischen Höhepunkt erreichte ich mit Ende vierzig. Davor war es mein Ziel, einen Marathon in dreieinhalb Stunden zu laufen, also genau einen Kilometer in fünf oder eine Meile in acht Minuten. Mal schaffte ich es, dann wieder – öfter – nicht. Immerhin war ich in der Lage, in etwa dieser Zeit einen Marathon zu beenden. Auch wenn ich es mal vermurkst hatte, blieb ich doch unter drei Stunden und vierzig Minuten. Selbst wenn ich wenig trainiert hatte oder schlecht in Form war, blieb es für mich unvorstellbar, vier Stunden zu überschreiten. Auf diesem Niveau hielt ich mich eine ganze Weile, bis irgendwann eine Wende eintrat. Auf einmal fiel es mir immer schwerer, unter drei Stunden vierzig Minuten zu laufen. Ich brauchte nun fünfeinhalb Minuten für einen Kilometer, und die Vier-Stunden-Marke für einen Marathon rückte immer näher. Das war ein kleiner Schock für mich. Was war nur los? Das konnte doch nicht am Alter liegen! Im Alltag hatte ich nicht das Gefühl, physisch nachzulassen. Doch ganz gleich, wie sehr ich es zu leugnen oder zu ignorieren versuchte, meine Leistungen gingen Schritt für Schritt zurück.
Vielleicht trug auch noch etwas anderes dazu bei, dass meine Marathon-Zeiten unbefriedigend wurden: Ich hatte begonnen, mich für noch längere Strecken und für andere Sportarten wie Triathlon und Squash zu interessieren. Immer nur rennen, dachte ich, ist vielleicht zu einseitig. Ob es nicht besser wäre, andere Sportarten einzubeziehen und abwechslungsreicher zu trainieren?
Mit einem Privattrainer korrigierte ich meine Schwimmhaltung und lernte schneller und besser zu schwimmen als vorher. Auch meine Muskulatur stellte sich auf das neue Element ein, und mein Körper veränderte sich sichtbar. Doch unaufhaltsam, wie das Meer sich bei Ebbe zurückzieht, verschlechterten sich meine Zeiten beim Marathon immer mehr. Außerdem machte mir das Laufen nicht mehr so viel Spaß wie früher. Zwischen dem »Laufen« und mir tat sich eine ständige Kluft der Erschöpfung auf. Mich befiel Enttäuschung darüber, dass all das anstrengende Training sich nicht gelohnt hatte und etwas mich nun aufhielt, als würde mir eine Tür, die für gewöhnlich offen stand, vor der Nase zugeschlagen. Ich gab diesem Zustand den Namen »Runner’s Blue«. Ich werde später noch genauer darauf eingehen, was für ein Zustand dieses »Blue« war.
Zehn Jahre sind vergangen, seit ich das erste Mal in Cambridge gelebt habe (von 1993 bis 1995, damals war Bill Clinton Präsident.) Als ich den Charles River wiedersah, überkam mich die Sehnsucht, wieder einmal zu laufen. Solange keine großen Umwälzungen stattfinden, bleiben sich Flüsse für gewöhnlich immer gleich, und der Charles River wirkte besonders unverändert. Die Jahre sind vergangen, die Gesichter der Studenten haben sich gewandelt, und ich bin zehn Jahre älter geworden. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes viel Wasser den Fluss hinuntergeflossen, er selbst jedoch ist unverändert. Sein Wasser strömt weiter rasch und fast lautlos auf den Bostoner Hafen zu. Es durchtränkt die Ufer, lässt die sommerlichen Gräser sprießen und nährt die Wasservögel. Gemächlich fließt es unter alten Steinbrücken hindurch, spiegelt die Sommerwolken (im Winter treiben Eisschollen darauf) und ergießt sich ohne Eile und doch ohne Unterlass stumm in den Ozean – eine unwandelbare, sich stets aufs Neue selbst bestätigende Idee.
Als ich die aus Japan mitgebrachten Umzugsgüter eingeräumt, die zahlreichen Formalitäten erledigt und mich einigermaßen eingelebt hatte, begann ich wieder ernsthaft zu laufen. Während ich die frische kühle Morgenluft in meine Lungen pumpte, verspürte ich die Freude, auf vertrautem Boden zu laufen. Der Klang meiner Schritte, meine Atmung und mein Herzschlag verbanden sich zu einem einzigartigen, vielgestaltigen Polyrhythmus. Der Charles River ist ein Wallfahrtsort für Ruderer, und irgendjemand ist immer auf dem Wasser. Oft mache ich mir einen Spaß daraus, mit den Booten um die Wette zu laufen. Natürlich sind sie meist die Schnelleren. Aber wenn jemand gemächlich dahinrudert, ist es ein prima Rennen.
Vielleicht gibt es in Cambridge so viele Läufer, weil der Boston Marathon hier zu Hause ist. Der Joggingpfad am Fluss ist endlos und man kann ihn, wenn man will, stundenlang entlanglaufen. Allerdings wird er auch von
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